Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
lernte er immer mehr zu schätzen. Je schlechter es Glynis ging, desto mehr kam es nicht auf betroffenes Gerede an, sondern darauf, eine Hand auf der Schulter zu spüren, ein aufgeschütteltes Kissen, darauf , dass man die Fernbedienung vom Tisch oder eine Tasse Kamillentee gereicht bekam. Insofern rührten ihn Schweigen, Seufzer, fühlbare Unbeholfenheit am Telefon weitaus stärker an. Ebenso Leute wie Nancy, eine begeisterte Nutzerin des Amway-Versandhandels, mit der Glynis fast nichts gemein hatte, sollte man zumindest glauben. Zu der deprimierenden Entdeckung bei der OP hatte Nancy ehrlich nichts zu sagen, und sie versuchte es gar nicht erst. Zudem bot Nancy auch nicht ganz unbestimmt »Hilfe« an, die er ohnehin nie in Anspruch genommen hätte. Sie erkundigte sich, wann Glynis Besuchszeit habe, wann sie wieder feste Nahrung zu sich nehmen könne und ob Glynis selbst gebackene Buttermilchplätzchen möge. Am Wochenende brachte sie einen Broccoli-Käse-Auflauf, den er und Zach am Abend zusammen verputzt hatten. Schon jetzt hatte Shep das Gefühl, dass die Leute, die man für »enge Freunde« gehalten hatte, nicht notwendigerweise dieselben Leute waren, auf die man sich verlassen konnte.
    Zu seiner eigenen Überraschung schlief Shep wie ein Stein. Er schämte sich deswegen, aber er war froh, allein im Bett zu schlafen. Die Einfachheit dessen, die anspruchslose Weite des leeren Bettzeugs. Ihm war gar nicht klar gewesen, wie anstrengend der andere Körper neben ihm gewesen war, der von innen jeden Tag etwas mehr verfaulte. Die Energie, die es ihn kostete, sie nicht beschützen zu können. Wer hätte gedacht, dass etwas, das man nicht tun konnte und deshalb auch nicht tat, überhaupt Energie kosten konnte, aber genau so war es.
    AM ÜBERNÄCHSTEN MORGEN hatte Sheps Beklommenheit vor der ersten Begegnung mit seiner Frau durchaus etwas von seiner Furcht vor ihrer Rückkehr am Pemba-Abend, dieser spezielle Horror, jemandem etwas sagen zu müssen, das er nicht hören wollte. Verrückter noch war seine Nervosität, dass man sie bei dem Herumgeschnipsel verändert, ihr etwas entfernt oder etwas in sie eingeführt haben könnte, sodass er sie nicht wiedererkennen würde.
    Andererseits aber war die Beklommenheit nicht völlig aus der Luft gegriffen. Er wusste nicht, was Charakter war oder wie stark die Strapazen sein mussten, bis ein Charakter in sich zusammenfiel und zu etwas Neuem wurde, das keinerlei Ähnlichkeit hatte mit derjenigen Person, die »Familie«, »enge Freunde« und selbst die »weniger engen Freunde« gekannt zu haben glaubten. Es war sogar möglich, dass der »Charakter« und seine oberflächlichere Cousine »Persönlichkeit« nur Nettigkeiten waren, eine dekorative Gefälligkeit der Gesunden, eine willkürliche Belustigung wie Bowling, die sich kranke Menschen nicht leisten konnten. Angesichts seiner eigenen robusten Konstitution war er gezwungen, sich auf lächerliche Kleinigkeiten wie Schnupfen oder Grippe rückzubeziehen. Er dachte an die bleiche Gesichtsfarbe, den lästigen blechernen Klang von Vogelgezwitscher und Musik, die beunruhigende Sinnlosigkeit jedes Unterfangens, wenn er sich krank fühlte, als ob er selbst immer noch derselbe und seine Umwelt dagegen aber krank geworden wäre. Seine Lebensgeister erschlafften, sein Appetit erschlaffte. Indem er einen minimalen toxischen Virus hinzufügte wie einen Schuss Zitrone in eine Tasse Milch, wurde aus einem vitalen, gut gelaunten Mann ein bitterer und teilnahmsloser Quälgeist. So viel zur Haltbarkeit von »Charakter«. Diesen Effekt mal tausend genommen, und dann war es kein Wunder, dass er vor dem, was ihn auf der Intensivstation der Columbia-Presbyterian erwartete, Angst bekam.
    Shep war bestimmt nicht der Einzige, der Krankenhäuser hasste und selbst beim Besuch eines geliebten Menschen gegen seinen Fluchtinstinkt ankämpfen musste. Ihn störten nicht nur die Gerüche, er versuchte nicht lediglich aus einem biologischen Impuls heraus, die Krankheit zu meiden. In identischen flatternden und am Rücken aufklaffenden Kitteln wurden die Patienten auf der ganzen Etage allem beraubt, was sie von außen unterscheidbar – erfolgreich, interessant oder nützlich – machte. Indem sie Flüssigkeiten, Medikamente und Nährstoffe aufnahmen, produzierten sie im Gegenzug nichts als Ausscheidungen und waren allen gleichermaßen eine Last. Warf man in den Krankenzimmern einen Blick auf die schlafenden Klumpen, die auf die flimmernden Fernseher gerichteten,

Weitere Kostenlose Bücher