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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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ausdruckslosen Gesichter, gewann man den Eindruck, dass diese Leute allesamt nicht gleich wichtig, sondern gleich unwichtig waren.
    Nichtsdestotrotz rührte es ihn an, dass sie alle zur Behandlung zugelassen wurden, der Wachmann vom Waschsalon ebenso wie der Dirigent der Philharmonie. Er hatte Vertrauen, dass man dem Waschsalonmann, egal, wie dumpf oder griesgrämig er war, nicht weniger Sorgfalt und Zuwendung angedeihen ließ als dem Maestro. Es mussten an die fünfzehn Jahre her sein, da hatte Shep in Sheepshead Bay einen Baum gestutzt; die Kettensäge war ihm ausgerutscht und hatte ihn am unteren Nacken erwischt, ähnlich wie der Fräser, den sich Glynis in den Finger gejagt hatte, nur in größerem Ausmaß und in unmittelbarer Nähe der Halsschlagader. Es hatte wahnsinnig geblutet. Er hatte noch immer die Narbe. Woran er sich vor allem erinnerte, war seine Verblüffung. Wildfremde Menschen waren herbeigeeilt, um ihm saubere Handtücher gegen die Wunde zu pressen, andere wildfremde Menschen hatten behutsam seinen blutenden Körper auf eine Bahre gelegt. Er hatte eine pragmatische Seite, und so gesehen hätte es ihm absolut eingeleuchtet, wenn man beim Einchecken in eine Klinik nicht nur gefragt wurde, welche Medikamente man nahm und ob man gegen Penicillin allergisch sei, sondern auch nach der Höhe seines IQ und ob man in der Lage sei, ein zehnstöckiges Haus mit Eigentumswohnungen zu bauen; wie viele Sprachen man spreche und wann man das letzte Mal etwas Gutes getan habe: ob man zu etwas zu gebrauchen sei. Stattdessen wurden wunderlicherweise alle Register gezogen, damit man aufhörte zu bluten, selbst wenn man niemandem auf Erden auch nur den geringsten Nutzen brachte.
    Mit diversen Schläuchen, die unter der Bettdecke hervorschauten, nahm Glynis so wenig Platz unter dem Bettzeug ein wie ein Kind. Sie sah aus wie ein Sack, wie etwas, das jemand weggeworfen hatte. Dr. Hartness zufolge hatte man in der vorigen Nacht allmählich ihre Morphiuminfusion reduziert und ihr den Schlauch aus der Nase entfernt. Der Chirurg hatte ihn vorgewarnt, dass sie beim Aufwachen groggy und desorientiert sein würde. Sie war aschfahl im Gesicht und schien zu dösen. Er betrachtete seine Frau, und zum ersten Mal blieb seine Verwunderung darüber aus, dass sie schon fünfzig war.
    Shep zog einen Stuhl an ihr Bett, wobei er vorsichtig war, um nicht mit den Stuhlbeinen über den Fußboden zu quietschen. Er setzte sich auf die Stuhlkante. Nur eine Fahrstuhlfahrt vom belebten Broadway entfernt, war dies eine fremde Welt der Stasis, in der minimale Freuden in der Erwartung fast immer attraktiver waren als in der Wirklichkeit – ein Schluck Ananassaft, der Dienstagspudding mit Erdbeersoße, ein Besucher mit Blumen, deren penetrant süßer Duft einem empfindlichen Magen am Ende gar nicht guttun würde. Eine Welt, in der Vergessen das Nirwana war, wo einem die Hoffnung auf Schmerzfreiheit niemals vergönnt war, allenfalls auf ein Nachlassen des Schmerzes. Shep wollte so sehr nicht hier sein, dass es war, als wäre er tatsächlich nicht hier. Er sehnte sich danach, diese Schläuche mit einem mächtigen Schwert zu durchtrennen, ähnlich wie er in einem Verlies die Ketten seiner Geliebten durchschlagen würde, um sie mit ihrem schleppenden Gewand auf seine Arme zu heben und zurück in die helle, tosende, frenetische Welt der Taxis, Hotdogs, Junkies und dominikanischen Pfandleiher zu tragen, wo er die nackten rosa Füße seiner Dame auf den kalten Asphalt aufsetzen und sie wieder ein Mensch werden würde.
    Als er ihre schlauchfreie Hand nahm und in seiner wärmte, ließ sie den Kopf von der abgewandten Seite des Kopfkissens herumrollen und sah ihn an. Ihre Augenlider bewegten sich. Schwerfällig befeuchtete sie die Lippen und schluckte. » Shepheeerd. «
    Ihre Kehle war aufgeraut von der Intubation, und sie sprach seinen Namen mit einem Krächzen aus, mit einem tiefen erotischen Schnurren, das ihn immer schon angerührt hatte, selbst wenn sie mit ihm schimpfte. Jetzt erst schlug sie die Augen richtig auf, und er erkannte seine Frau.
    Es war Glynis, auch wenn sie nicht richtig da war. Sie war auf einer langen Reise gewesen und war noch nicht vollständig zurückgekehrt.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Schwer … und gleichzeitig leicht.« Sie klang etwas betrunken, es fiel ihr offenbar schwer, die Lippen zu bewegen. Er hätte ihr so gern ein Glas Wasser gegeben, aber er durfte nicht. Nichts durch den Mund, bis der Darm wieder funktionierte.

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