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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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überhaupt nichts merkte. Aber es war nicht die richtige Zeit, sich auf seine vergleichsweise kleinen medizinischen Probleme zu konzentrieren, und er war dankbar, dass er alles im richtigen Verhältnis sehen konnte. Glynis war jetzt schon die zweite Woche im Krankenhaus; sie war von der Intensivstation in ein Einbettzimmer verlegt worden, und sie empfing jetzt auch Besuch.
    Wegen des Mitbringsels hatte er sich das Hirn zermartert. Shep sagte, ihr Darm habe seine Funktion wiederaufgenommen, und sie würde wieder kleine Mengen fester Nahrung zu sich nehmen. Dennoch, was sollte man jemandem mitbringen, der gerade dabei war, sich von einem großen Eingriff zu erholen, Vanillepudding? Zum Schutz vor Infektionen waren Blumen verboten. Als Carol am Vormittag hingefahren war, hatte sie Glynis eine warme Reißverschlussjacke aus Fleece mitgebracht, die sie im Bett anziehen konnte, in einem satten Rot, das ihr gut zu Gesicht stand – ein beneidenswert inspiriertes Geschenk. Endlich kam er auf den Gedanken, ihr einen Liter frischen Maracujasaft zu besorgen. Zumindest klang das nach etwas, das die Lebensgeister weckte, und zum ersten Mal war er froh, dass Park Slope so schnöselig, vornehm und lächerlich geworden war; gleich im ersten Feinkostladen auf der 7th Avenue war das Zeug zu haben gewesen. Niemand konnte sagen, wie viele Besuche noch bevorstanden, bis dieser Albtraum vorbei war, und schon jetzt fielen ihm keine Geschenke mehr ein. Dabei würde die Sache vermutlich in der Zukunft nur immer noch schwieriger werden, sie würde die Lebensmittel, Bücher, Kleidungsstücke und Musik immer weniger gebrauchen können, je mehr sie sie auch tatsächlich verdiente.
    Glynis’ Zimmer war leicht zu finden; ein Damenkränzchen hatte sich vor ihrer Tür aufgebaut. Schlechtes Timing. Er ließ sich Zeit, um sich zu sammeln und den Sitz seiner Jeans zu justieren, indem er die Hände in die Hosentaschen schob. Es waren Jeans aus der Zeit, als er fünf Kilo mehr gewogen hatte, die geräumigsten, die er besaß. Er hatte sich angewöhnt, im Gehen unauffällig die Taschen von innen nach vorn zu schieben, damit der Stoff nichts berührte.
    Er erkannte die alte Dame wieder, die mit den beiden jüngeren Frauen plauderte. Sie musste inzwischen weit über siebzig sein, und sie steckte in einer großblumigen Aufmachung mit zahlreichen Accessoires, die allesamt lauthals verkündeten: Ich bin zwar schon älter, habe aber keineswegs meine Selbstachtung verloren . Es war Hetty, die Mutter. Er war ihr schon mal begegnet, an einem Abend bei den Knackers, an dem Hetty beim Essen mit erschöpfendem Elan vor sich hin geschnattert hatte. Was ihn am meisten beeindruckt hatte, war ihre Geschäftigkeit. Ihre diversen Aktivitäten in Tuscon umfassten eine Kampagne für ein Führerscheinverbot für illegale Einwanderer und auch neutralere Belange wie die Aufarbeitung von Antikmöbeln oder Yoga für Senioren. Sie erinnerte ihn an jene verblüffende Spezies von Mitschülern, die jeden Tag ihre Freizeit mit »außerschulischen Aktivitäten« vollgepackt hatten; es war, als ginge Hetty zur Schulbandprobe oder als habe sie sich zur Vizepräsidentin des Debattierklubs aufstellen lassen. Schwer zu sagen, ob dieser wilde Aktionismus das war, was er zu sein vorgab – ein Entschluss, jeden Tag bis zur Neige auszuschöpfen –, oder genau das Gegenteil, nämlich eine Flucht. Auf jeden Fall war sie die Art von Dame, die noch auf dem Sterbebett Hindi lernen würde, ohne dass ihr dabei in den Sinn käme, dass sie es nicht mehr bis nach Delhi schaffen würde, um den Satz »Wie komme ich bitte zum Bahnhof?« auszuprobieren.
    Es mochte lange her sein, doch der Abend war ihm noch gut in Erinnerung, weil Glynis so wütend geworden war. Hetty hatte zu Jackson eine relativ harmlose Bemerkung gemacht, die Glynis so aufgefasst hatte, dass ihre Mutter ihren Kurs im Körbeflechten mit Glynis’ Schmiedearbeit gleichsetzen wollte. Glynis hatte mit frostiger Stimme verkündet, sie habe zufällig an einer Kunstschule studiert. Anschließend hatte sie die beiden Museen genannt, die ihre Stücke in ihre ständige Sammlung aufgenommen hatten, und sämtliche Galerien aufgezählt, in denen ihre Arbeiten gezeigt worden waren, dazu noch in New York – mit anderen Worten, nicht irgendwo in der Pampa im amerikanischen Südwesten. Er erinnerte sich an das Unbehagen, das ihn damals beschlichen hatte. Glynis war alt genug, um über unbedachte Bemerkungen ihrer Mutter geflissentlich hinwegzuhören.

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