Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Beim Aufzählen all dieser Galerien hatte sie sich in ein kleines Mädchen zurückverwandelt.
Er sah zwar ein, dass der zwanghafte Übereifer auf Dauer anstrengend sein konnte, dennoch war Hetty Pike für den unbeteiligten Beobachter ein ziemlich normaler Mensch. Jackson staunte immer, welch große Gefühle die handelsüblichen Defizite und kleingeistigen Schrullen der alltäglichsten Charaktere auslösen konnten, wenn es sich bei diesen x-beliebigen Personen zufällig um die eigenen Eltern handelte. Zugegeben, Glynis und ihre Mutter hätten unterschiedlicher nicht sein können. Glynis war Perfektionistin, reserviert, hyperkritisch und ganz und gar düster; Hetty war fröhlich, gefühlsbetont und nicht im Geringsten bekümmert, wenn die Vase, die sie in ihrem Töpferkurs zusammengestoppelt hatte, am Ende unförmig war und nicht dicht hielt. Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich; Hetty war klein, hatte ein rundes, strahlendes Gesicht und flauschiges, dauergewelltes graues Haar, wogegen Glynis’ markante und längliche Gesichtszüge an die Fotos ihres mageren, schlaksigen Vaters erinnerten. (Glynis hatte ihn verehrt. Wenn man so will, hätte sie ihrer Mutter vorhalten können, dass er und nicht Hetty vor gut zwanzig Jahren beim Klettern von einer Steilküste gestürzt war.)
Doch anstatt das Missverhältnis zu ignorieren, ließ sich Glynis von der Ungleichheit zwischen ihr und ihrer Mutter in den Wahnsinn treiben. Selbst in ihren mittleren Jahren wollte sie der guten Frau noch immer etwas beweisen, und Jackson hatte gegen den Impuls ankämpfen müssen, sie beim Abendessen damals zur Seite zu nehmen und ihr »vergiss es« ins Ohr zu flüstern. Hetty war eine ganz normale, minderbemittelte Frau, die wahrscheinlich eine so gute Mutter gewesen war, wie sie es eben hatte sein können – also genauso beschissen wie jede andere. Und wenn schon. Es war zu spät, um etwas daran zu ändern. Was immer es war, wonach Glynis dürstete – banale Abstraktionen wie Wertschätzung, Anerkennung und Akzeptanz konnten den Mangel wohl kaum angemessen umschreiben –, dergleichen zu spenden lag letztlich und grundsätzlich nicht in der Macht der Eltern. Man konnte nicht dasitzen und warten, bis jemand einem etwas schenkte; man ging los und nahm es sich selbst. Das war Selbstermächtigung, das verlieh einem Selbstachtung.
»Jackson Burdina!« Hetty winkte und stellte ihre dekorative Dose auf dem Fußboden ab, um besser mit beiden Händen Jacksons eine Hand umschließen zu können. Ein gutes Namensgedächtnis war wohl zu erwarten bei einer pensionierten Grundschullehrerin, das heißt, sein Name prangte auf einer Liste zusammen mit Tausenden von Sechsjährigen. »Ich freue mich so, Sie zu sehen, auch wenn der Anlass natürlich furchtbar ist. Sie haben doch auch Kinder, Sie können das bestimmt nachvollziehen …« Tränen traten ihr in die Augen. »Etwas Schlimmeres kann einer Mutter nicht passieren.«
»Ja, ist ’ne ganz üble Sache«, pflichtete er ihr bei und wünschte, sie würde seine Hand loslassen.
Stattdessen zog sie ihn hinüber zu den beiden Frauen, die etwas abseits standen. Genau so wurde wohl ein Erstklässler mit seinen neuen Mitschülern bekannt gemacht. »Meine beiden anderen Töchter kennen Sie noch gar nicht, nicht wahr? Ruby? Deb? Das hier ist Jackson. Er und seine Frau bedeuten eurer Schwester sehr viel.«
Er reichte den beiden die Hand und staunte, dass Ruby, die mittlere Schwester, Glynis so unglaublich ähnlich sehen und dabei so unglaublich weniger hübsch sein konnte. Glynis war schlank; Ruby war mager. Glynis war stattlich; Ruby war schlaksig. Derselbe Satz annähernd identischer Gesichtszüge war in Rubys Gesicht auf subtile Weise neu angeordnet, zum Nachteil der Jüngeren, und während man die Älteste nicht gerade als üppig bezeichnet hätte, hatte Glynis doch immerhin einen Busen. Glynis kleidete sich mit schlichter Eleganz; Rubys ausgewaschene schwarze Jeans und das schlabbrige graue Sweatshirt waren schlichtweg schäbig. Den größten Unterschied aber bildete wohl das Verhalten. Glynis hatte eine verschlagene Unnahbarkeit, die ihr etwas Geheimnisvolles, fast Majestätisches gab. Auch Ruby hielt auf Distanz, wirkte dabei aber angespannt und knauserig; allzu häufig warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und lief hin und her, als könnte sich die Krankheit ihrer Schwester ruhig ein bisschen beeilen, weil sie nämlich ein paar dringende Termine hatte. Und siehe da, kaum hatten sie die
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