Diesseits Des Mondes
besonders, wenn sie aus Träumen erwachte – konnte das Zurückgelassene ihr so heftig nahe sein, so lebendig in ihr, dass sie den Tag über davon nicht loskam. Sharon sprach dann im Traum mit ihrer Mutter, wissend, dass diese tot sei. Sie spürte auch im Traum den Schmerz um dieses Wissen, trotzdem blieb im Erwachen der Wunsch, es möge die Mutter noch leben. Doch es war ja passiert, was nicht hätte geschehen dürfen, und sie, Sharon, würde sich immer daran schuldig fühlen. Sie sah sich wieder nach der Beisetzung beim Schiwa-Sitzen mit den anderen. Nurit, Jakob und Esther waren aus Jerusalem gekommen, Michael und Ruth aus Giwat Scharett. Auch Oren, Amos und Nava waren da, Kollegen der Mutter vom
Ha’aretz,
zu dessen Redaktion Ruth lange gehört hatte. Aus Mea Schearim ist Abraham gekommen, auch ein Freund der Mutter, trotz der Wärme im Kaftan und Pelzhut der chassidischenJuden. Er und Mirjam, seine Frau, haben nach dem Begräbnis alle Spiegel und Bilder verhängt, Sitzgelegenheit für alle auf dem Boden arrangiert. Sharon lässt es mit müder Dankbarkeit geschehen. Abraham schneidet Fetzen aus den Hemden der Männer, er hat auch, als er das Haus nach dem Tod Ruths betrat, alle genötigt, die Schuhe auszuziehen. Es ist ein Kommen und Gehen. Die Nachbarn erzählen Sharon, wann sie Ruth zum letzten Mal gesehen haben, was sie gesagt habe, wie schön sie gewesen sei. Heiter, voller Pläne. Es war, als wolle jeder sich entschuldigen, dass er Ruth nicht beschützt hatte. Nurit, Jakobs neue Freundin, nahm immer wieder Jakobs Hand, wie ein Beschwörungsritual: Du, ich bin jetzt da. Jakobs bedrängtes Flüstern zu Sharon: Du weißt, dass nicht ich Ruth verlassen habe. Ja, Sharon wusste, dass ihre Mutter den zehn Jahre Jüngeren freigegeben hatte.
Ruth, ihre schöne, umworbene Mutter – hatte sie an den immer gleichen Zeichen erkannt, dass Jakob sich, vielleicht noch unbewusst, darauf vorbereitete, sich von ihr zu trennen? Hatte sie gespürt, dass diese Trennung die tödliche Konsequenz ihrer eigenen Sünden an Jakob war? Hatte Ruth Jakob je ernst genommen, seine verlässliche Liebe geschätzt? War nicht erst, als Ruth ihre eigene Ermüdung, das seltsame Nachlassen der Kräfte bemerkte, war nicht erst da eine verzweifelte Liebe zu Jakob aus ihr hervorgebrochen, eine Liebe, an die sie nie geglaubt hatte? War Ruth nicht auch für sie, Sharon, eine völlig Neue geworden? Die nervöse Sprödigkeit, die Ungeduld und Kühle von früher wandelten sich in der letzten Zeit zu Nachgiebigkeit, Sanftheit. Ruth, die Sharon früher Fragen gestellt und dann auf ihre Antwortennicht oder wenigstens nicht lange gehört hatte, begann sich spät der Tochter zuzuwenden. Sie, deren Arbeit in ihrer Redaktion immer häufiger kritisiert wurde und die sich verletzt aus dem Geschehen zurückzog, fand plötzlich Gefallen daran, in einer Gärtnerei Blumen zu verkaufen. Auch dies dauerte nicht lange, bis sie mit einem müden Lächeln berichtete, dass sie auch in der Gärtnerei nicht mehr arbeiten möge, sich zurückziehen wolle, um ein Drehbuch zu schreiben. Sharon sah die Zeichen nicht. Ihre Mutter war ihr immer unerreichbar gewesen. Sharon hatte sie oft verstohlen angeschaut. Ruths dunkle Augen unter starken Brauen, Augen, die abschätzten, aufsaugten, wegstießen, übersahen, selten lächelten. Ruths Hände, die Sharon zum ersten Mal streichelten, als die Großmutter starb. Dort, als Sharon vor der Grube an ihrem Schluchzen zu ersticken meinte, da hatte sie die Hände Ruths an ihrer Wange, am Hals und auf dem Haar gespürt, Hände in kühlen, dünnen Lederhandschuhen.
Einmal, früh, als sich die Brust der Mutter unter einem dünnen weißen Hemd abzeichnete, da wollte Sharon diese weichen Wölbungen berühren. Doch Ruth fasste schroff und schmerzhaft Sharons dünne Gelenke. Sharon hatte auch gesehen, wie Ruth Amnons Hände beiseiteschob, wie ihre Mundwinkel immer öfter Absagen gegen Amnons Liebe waren. Wie Amnon schließlich, nachdem er drei Jahre mit Ruth und Sharon zusammengelebt hatte, mit weißem Gesicht und zusammengepressten Lippen aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war, weil Ruth es so wollte. Sharon hatte geweint, sie mochte Amnon, er war immer liebevoll mit ihr umgegangen.
Er verteidigte Sharon gegen die nervöse Ungeduld Ruths, versuchte die Versprechen zu erfüllen, die Ruth Sharon gab und dann nicht hielt. Morgen, Kind, morgen ganz bestimmt. Amnon war Sharon näher, als die Mutter es war. Dem Kind war es lieber, wenn sein Schritt
Weitere Kostenlose Bücher