Diesseits Des Mondes
sprach nur dann von Birkes Vater, dem S S-Helden , wenn Birke sie danach fragte. Obwohl ein Nazi, ein Selbstmörder dazu, hatte Birke ihn immer ersehnt. Sie wäre gern die Tochter eines Vaters gewesen. Wem gehörst denn du, pflegten die einfachen Leute zu fragen, die in der Gegend wohnten, wo die Gärten der Wohlhabenden lagen. Wenn Birke dann ihren Namen nannte, sagten die Leute achso, oder sie sagten gar nichts. Pastor Kemper, dem Birkes Mutter den Haushalt führte, eignete sich nicht als Vater-Ersatz. Obwohl er, kurzbeinig und kugelig, von allen Kemperchen genannt wurde und mit seinen fünfundsechzig Jahren nicht mehr zum Adonis taugte, mussten Birke und ihre Mutter sich vor dem Klatsch hüten. Umso mehr liebte es Birke, wenn sie jetzt mit dem Elefanten, der sie sogar heimlich selbst chauffieren ließ, nach Köln fuhr, um mit Geschäftsfreunden des Elefanten zu essen. Sie saßen in der Bastei über dem Rhein oder im Domhotel, und wenn niemand von der Familie es hörte, nannte sie den Elefanten Dad.
Einmal sagte der Elefant einem Köbes, einem der Ober mit den langen grünen Schürzen über dem Frack, er solle doch für seine Tochter einen besonders schönen Eisbecher bringen. Der Köbes stellte das üppig garnierte Eis vor Birke hin, um dann respektvoll zum Elefanten zu sagen: Donnerwetter, dat is abber ne Elfmeter vom Pappa. Birke wusste genau,dass die überschwängliche Herzlichkeit, die respektvolle Haltung, die man ihr in den Geschäften, in den Restaurants und in den Hotels entgegenbrachte, auf das Konto des Elefanten ging, der mit seiner kaschmirumhüllten Leibesfülle, seiner dröhnenden Stimme und den großzügigen Trinkgeldern überall eine bekannte Größe war. Der Elefant ging nur in Geschäfte, wo man ihn kannte, er verkehrte immer in denselben Restaurants und Bars. Er wollte einen Hofstaat, vor allem wollte er ihn jetzt wegen Birke. Waren sie einige Kilometer heraus aus dem Ort, schminkte sie sich unter den liebevollen Blicken des Elefanten. Sie malte sich Lidstriche, schwarz, aber nicht zu dick, der Elefant mochte es dezent. Er lackierte ihr sorgfältig die Nägel, Michael verabscheute das, und deshalb entfernte Birke auf dem Nachhauseweg alles sorgfältig. Wie zwei Verschwörer fuhren der Elefant und Birke, wenn sie Schulschluss hatte, hierhin und dorthin.
Michael studierte in Köln im ersten Semester Germanistik und Geografie. Einmal, als der Elefant für Birke bei Salzmann einen Kamelhaar-Dufflecoat gekauft hatte und sie beide lachend aus dem Geschäft herauskamen, begegneten sie Michael, der zum Bahnhof wollte. In dieser Sekunde empfand Birke eine unbestimmte Reue, eine Sehnsucht nach Michael, die gleiche Sehnsucht, die sie empfunden hatte, als ein belgischer Besatzungssoldat sie nach dem Weg zum Hotel Graf von der Mark fragte. Birke wusste, dass sie mit niemandem mitgehen durfte. Sie war damals wohl sechs Jahre alt und es wurde ihr immer wieder eingehämmert. Sie wollte auch nur ein kleines Stück mit dem freundlichen Soldaten gehen, bis an die Ecke zum Schmittenloch, dann konnte er das Hotel sehen.Sie ging mit dem Soldaten und es war heiß. Der Soldat war sehr groß, er hob Birke hoch und setzte sie sich auf die Schultern. Birke hatte jetzt ein wenig Angst, aber sie aß die Schokolade, die der Soldat ihr gab, und als sie das steile Schmittenloch hinuntergingen, hatte Birke noch mehr Angst, aber eher, dass der große Soldat hinfallen könnte und sie mit ihm. Er jedoch ging mit großen, sicheren Schritten, und als sie unten waren am Schmittenloch und er das Hotel Graf von der Mark sehen konnte, blieb Birke trotzdem bei ihm. Er hatte Birke jetzt mit Schwung von seiner Schulter gehoben und auf die Beine gestellt, was Birke lieber war. Und der Soldat fragte nach Birkes Mutter und ob sie gerne Kaffee tränke, er habe eine große Packung im Hotel und wolle sie Birke gerne für ihre Mutter schenken. Birke wusste, dass es ihr streng verboten war. Noch strenger, als den Weg zu zeigen, war verboten, mit in ein Haus zu gehen. Obwohl Birke das genau wusste, begleitete sie den Soldaten hinab ins Souterrain des Hotels, wo sein Zimmer war. Dort zeigte er Birke den Kaffee, den Kaugummi, die Schokolade. Alles für dich, sagte er und nahm Birke auf den Schoß. Von seinem Schoß aus konnte Birke durch die vergitterten Fenster auf die Straße sehen, dort fuhren Kinder mit dem Roller, Kinder in ihrem Alter. Birke glaubte, diese Kinder zu kennen, und sie hatte mit einem Mal schmerzliche Sehnsucht, dort draußen mit
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