Diesseits Des Mondes
mögen. Vor allem dem Elefanten.
Einige Wochen nach der gemeinsamen Fahrt – es war auch die letzte Fahrt Birkes mit dem Elefanten gewesen –, an einem schönen Wintermorgen, der einen glücklichen Tag hätte bringen können, an diesem Morgen fiel der Elefant um. Seine Mutter rief Michael, der es, aber erst am späten Abend, Birke berichtete. Umgefallen, ohnmächtig, in der Klinik nicht mehr erwachend. Ein Tumor war es, faustgroß, der es dem Elefanten versagte, zu sehen, zu hören, zu denken und vielleicht auch zu fühlen. Jedenfalls äußerte der Elefant nichts von alledem. Er schrie nicht, er tobte nicht, er aß nicht, er trank nicht. Der Elefant ignorierte alles, was um ihn war. Sie brachten ihn in die Universitätsklinik nach Köln. Michael und seine Mutter sahen täglich nach ihm, doch der Elefant reagierte nicht. Er lag auf der Schwelle zum Tod undbewegte sich nicht. Vielleicht gewöhnt er sich so besser ans Totsein, dachte Michael und wunderte sich, wo jetzt sein Hass war. Nach drei Wochen äußerster Ruhe und Gelassenheit starb der Elefant.
Birke konnte sich ihren Dad nicht tot vorstellen, aber sie gewöhnte sich rasch an den Gedanken, dass er nicht mehr da war. Sie hatte es gelernt, Väter unbenutzt wieder zurückzugeben.
Völlig unerwartet für uns alle. Die Zeitungen gaben ganzseitig davon Kenntnis. Nicht völlig unerwartet kam auch der Bankrott des Unternehmens, das der Elefant in den letzten Jahren offensichtlich nur noch durch Geschäftsessen, Männerbündelei auf Treu und Glauben zusammengehalten hatte. Michael, der bewusst aus dem Geschäft ausgeschaltet gewesen war, konnte den Untergang nicht einmal begleiten, geschweige denn aufhalten. Seine Mutter sah allem zu. Es war, als versteinere sie innerlich, als breite sich der Verlust des Elefanten, der Verlust ihrer Existenz langsam, aber unaufhaltsam in ihr aus, als durchziehe das Unglück sie gründlich bis in die feinsten Adern. Sie schwieg zu allem, sagte wortlos Ja zu allem. Es schien ihr gutzutun, wenn Birke mit ihrer Mutter um sie war.
Als Birkes Mutter von Umzugsplänen nach München sprach, von ihrem verstorbenen Bruder, dessen Witwe sie gerne in München sähe, als diese Pläne in Einzelheiten besprochen wurden, immer mehr Gestalt annahmen, wurden sie auch zu Michaels Plänen, die seine Mutter wortlos akzeptierte.
4
Sharon dachte manchmal, dass sie während ihres ganzen Lebens in Israel nicht so häufig aus dem Fenster geschaut habe, wie sie es jetzt in ihrer neuen Münchner Wohnung tat. Immer wieder sah sie auf die Straße, die vom Sommerregen dampfte. Das glänzende Dunkelgrün der Blätter war frisch – die Bäume in Israel erstickten fast unter Staub. Sharon möchte viele Stunden des rauschenden Regens nach Israel schicken, in den Sinai, in den Negev, in die West Bank, wo die Erde aufbrach vor Trockenheit. Ödzonen und unwirtliche Berge machten einen großen Teil Israels aus, die Menschen mussten sich mühsam zurückholen, was sie viel zu lange dem Sand überlassen hatten. Als Kind hatte Sharon nicht genug hören können von den byzantinischen Städten, die im Negev begraben lagen. Städte mit herrlichen Plätzen, prachtvollen Säulengängen und groß angelegten Palästen. Alles hatte der Sand sich geholt. Nur Dattelpalmen, Tamarisken und Eukalyptusbäume überlebten, denn, so hieß ein Spruch: »Sie haben ihre Füße im Salzwasser und ihre Kronen im Sonnenfeuer.« Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume, hatte Sharon neulich gelesen. Sharon möchte die Regentage, über die viele Deutsche schimpfen, nach Jerusalem schicken. Vor allem nach Tel Aviv, wo die Menschen im Hochsommer wie in heißer Watte gehen, sobald sie ihre Häuser verlassen.
Wenn Sharon hier in München auf die Straße trat, war es, als gäbe die Luft ihr einen leisen kühlen Kuss. Die Straße war still, Sharon ging wie in einer grünen Höhle, die sich am Ende der Straße zu einem Kanal hin öffnete, auf dem Enten den Tag durchschwammen, manchmal von grauen Jungen gefolgt. Die Straße und der Kanal waren Sharons Oase, an deren Ende dann lärmende Busse und Autos die Großstadt ankündigten. Dort stand auch das Taxi, das Sharon hineinbrachte in ihr neues Leben, das so neu schon lange nicht mehr war.
Seit elf Monaten lebte Sharon in München. Manchmal erschien ihr dieser Zeitraum unübersehbar lang, es schien ihr, als sei in der Zwischenzeit so viel passiert, dass sie in ihrer Erinnerung nicht mehr zurückfand nach Israel, nach Tel Aviv. Dann wieder –
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