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Diesseits Des Mondes

Diesseits Des Mondes

Titel: Diesseits Des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asta Scheib
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sie das Kind anschreien ließ. Du bist wie André, schrie sie manchmal unbeherrscht. Eine nicht aufgeräumte Schulmappe Sharons konnte Ruth bis zur Raserei treiben. Unordnung im Zimmer ebenfalls. Einmal hörte Sharon ihre Mutter zu einer Freundin sagen: Sie hat Andrés Nase, aber bei einem Mädchen sieht das natürlich nicht so gut aus. In Sharons Gegenwarterzählte Ruth Freunden, dass sie eine gute Chance habe, als Korrespondentin des
Ha’aretz
nach Galiläa zu gehen, doch könne sie das ja schließlich nicht, Sharons wegen. Als dann Amnon ins Haus kam, Ruths erster Mann nach der Trennung von André, wurde die Kluft zwischen Mutter und Tochter noch größer. Sharon ging, außer an den Wochenenden, jetzt auch oftmals abends zur Großmutter. Die beiden machten dann ihre Spaziergänge am Meer. Meistens gingen sie am Strand entlang in Richtung Jaffa. Sharon, eng an die Großmutter geschmiegt, hörte sie von einer Stadt in Deutschland, von Stuttgart, erzählen. Von Bad Cannstatt, wo die Familie Stern ein Hotel geführt hatte. Sie erzählte Sharon von Marbach, dem Geburtsort eines großen deutschen Dichters, dessen Dramen sie oft mit dem Großvater in verteilten Rollen gelesen hatte. Schon lange ehe Sharon in der Schule oder später im Goethe-Institut in deutscher Literatur unterrichtet wurde, waren ihr die Namen Schiller, Goethe, Lessing, Hölderlin oder Nietzsche vertraut. Und so antwortete die Großmutter auch auf Sharons Frage, warum sie nach dem frühen Tod des Großvaters allein geblieben sei, mit Hölderlin: »Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarf’s nicht.« Ohne auch nur einen Sinn zu verstehen, konnte Sharon auswendig: »Liebe wallt durch Ozeane, Durch der dürren Wüste Sand, Blutet an der Schlachtenfahne, Steigt hinab ins Totenland. Liebe trümmert Felsen nieder, Zaubert Paradiese hin, Schaffet Erd und Himmel wieder – Göttlich, Göttlich, wie im Anbeginn.«
    Oftmals, wenn Sharon in der Abenddämmerung mit der Großmutter am Meer stand, wenn die grauenWellen ihre weißen Ränder wieder und wieder vor sich hertrieben in den Ufersand, dann sah Sharon die Liebe wie eine Frau im weißen Gewand. Sie ging über die Säume der Wellen hinaus ins Meer, dem Horizont zu, der bergend und drohend zugleich das Meer zu begrenzen schien. Lange konnte Sharon die Stimmung des abendlichen Meeres nicht aushalten. Ihr wurde dann Angst. Rasch zog sie die Großmutter mit sich fort, zurück zum belebten Strand, zur illuminierten Uferpromenade. Sharon wollte dann unter Menschen sein, ihre Stimmen hören, ihr Lachen und lautes Debattieren. Ganze Familien gingen abends am Meer spazieren. Sharon wäre gern Teil einer großen Familie gewesen, doch sie waren allein, die Großmutter, Ruth und Sharon. Onkel, Tanten gab es nur aus der Familie des Großvaters, doch sie lebten in Haifa. Sharon sah sie ebenso selten wie die Familie ihres Vaters, die in der Negev-Wüste, in Beer Sheba, lebte. Sharon wusste, dass die Familie ihrer Großmutter in Deutschland ermordet worden war, dass sie aus diesem Grund in Tel Aviv keine Angehörigen hatte. Keine große laute Familie, wie die meisten ihrer Mitschülerinnen.
    Doch hatte Sharon oft den Sederabend, den ersten Abend des Pessachfestes, in der Familie ihres Vaters in Beer Sheba gefeiert, gemeinsam mit Großmutter und Ruth. Sharon liebte die Geschichten zum Pessach, was so viel heißt wie Vorüberschreiten oder Verschonen, denn der Engel, der die Erstgeborenen der Ägypter tötete, schritt an den Häusern der Israelis vorbei, verschonte deren Erstgeborene. Sharon liebte es auch, wenn Großvater Amos aus der Passah-Haggada vorlas: »Ihr sollt diesen Tag haben zum Gedächtnisund sollt ihn feiern dem Herrn zum Fest, ihr und alle eure Nachkommen, zur ewigen Weise. Sieben Tage sollt ihr ungesäuertes Brot essen: Nämlich am ersten Tag sollt ihr den Sauerteig aus euren Häusern tun. Wer gesäuertes Brot isst vom ersten Tag an bis auf den siebenten, des Seele soll ausgerottet werden von Israel . . .«
    Die Familie hatte schöne alte Sederschüsseln, auf denen die Matzen gereicht wurden, deren milden Kohlegeschmack Sharon gern mochte.
    Die Bilder des Auszugs der Kinder Israels aus Ägypten hatten Sharon schon immer fasziniert. Als sie zum ersten Mal bewusst hörte: »Der Herr zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten . . .«, da fragte sie ihre Großmutter, warum der Herr nicht vor den Juden aus Deutschland

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