Diesseits Des Mondes
merkwürdige, dünne Gummischläuche geschlungen. Sie trug eine Art Abendkleid aus schwarzem Taft mit Tüll, in das sie offenbar große Zacken hineingeschnitten hatte.
Mauritz hatte bemerkt, dass Sharon nachdenklich auf Danda und Julie schaute. »Die beiden suchen ihreIdentität«, sagte er ernsthaft, während er seinen Spaghetti-Berg sorgfältig mit Sauce bedeckte, »sie spielen jeden Tag eine andere Rolle.«
»Hosenscheißer«, sagte Danda, doch Mauritz war offenbar geladen: »Lern du erst mal, fleckenlos zu menstruieren«, riet er kühl seiner Schwester; »ich durfte heute schon wieder dein Bett neu beziehen.«
Birke erklärte Sharon, dass Mauritz in diesem Monat für die Betten verantwortlich sei. Das gehe reihum bei ihnen, da sie alle das Bettüberziehen hassten und es immer an ihr, Birke, hängen geblieben sei. Jetzt ginge es nach Plan, ebenso das Einkaufen und das Kochen. Damit sei diese Woche sie, Birke, dran. »Haste Glück gehabt«, sagte Mauritz zu Sharon.
»Ich find das total geil, dass du im Number Six tanzt«, sagte Julie zu Sharon, »machen dich die Männer an?«
Sharon fühlte sich gegenüber diesen Mädchen, die beide noch die Schule besuchten, neben diesen nur wenige Jahre Jüngeren fühlte sie sich schon schmerzhaft ins Leben verflochten, verbogen, verkrümmt, belastet. Danda und Julie erschienen ihr kindlich, behütet, sorglos, spielerisch das Leben probend. Auch wenn Sharon aus den Gesprächen gehört hatte, dass Julie sich mit ihren Eltern gar nicht verstand, bei der Großmutter lebte, einmal im Zorn in der elterlichen Wohnung Tabula rasa gemacht hatte. Das schien Sharon alles erstrebenswerter, leichter lebbar als ihre eigene Existenz, die nie eine Mitte gehabt hatte und dadurch allzu früh zerstörbar gewesen war. Diese Mitte, so glaubte Sharon, kann ein Kind nur dann finden, wenn es Vater und Mutter, ein Elternhaus hat. Danda, Mauritz und Julie hatten es zumindest jahrelangbesessen, ihre Opposition schien Sharon Attitüde zu sein, eine Variante nur des spielendleichten Erwachsenwerdens.
»Lass dir nichts von meiner Turbo-Nazi-Oma gefallen«, sagte Danda zu Sharon, »die Nazi-Oma ist harmlos, die ist schon gaga.«
»Bitte, Danda!« Birke sah Danda wütend an. »Danda und Mauritz sind unverschämt. Sie haben mitbekommen, dass meine Schwiegermutter im Dritten Reich in der N S-Frauenschaft mitgearbeitet hat. Sie glauben, sie dürfen das heute beurteilen und verurteilen. Auch dass der Bruder meiner Mutter einer von Hitlers Architekten war, der in Nymphenburg mehrere Häuser besaß. Auch das Haus, in dem mein geschiedener Mann wohnt. Es gehört heute meinem Vetter Adi.«
»Sag ihr ruhig, was mit dem Adi los ist«, sagte Danda, »Sharon muss schließlich wissen, in wessen Haus sie kommt. Wenn du zu feig bist, dann sag ich es ihr.«
Und Danda erzählte, dass ihr Onkel Adi auch gaga sei. Sein Vater habe den Hitler so flammend verehrt, dass er daheim keine Worte mehr gehabt habe. Nur Pfiffe. Wenn er einmal pfiff, galt es seiner Frau, wenn er zweimal pfiff, galt es Adi, der damals natürlich Adolf hieß. »Von dem Pfeifen«, sagte Danda, »ist der Onkel Adi gaga geworden. Trotzdem hat der Arm von seinem Nazivater noch aus dem Grab dazu gereicht, dass der Adi im Landwirtschaftsministerium Sachbearbeiter für Manöverschäden werden konnte. Aber dort hatte niemand gepfiffen, und deshalb konnte sich der Adi nicht orientieren. Da haben sie ihn früh pensioniert. Jetzt lebt er in einem Gartenhaus,das früher mal zu einem der Häuser seines Vaters gehört hat. Er sammelt Plastiktüten, die verschenkt er an Leute, gegen die Atomstrahlen. Du wirst ihn schon kennen lernen, denn er kommt immer zum Dachreparieren. Der liegt dann stundenlang droben mit einem Transistorradio. Irgendjemand pfeift ihm dann schon, und dann kommt der Adi wieder runter.« Danda sah Sharon erwartungsvoll an. Julie fragte plötzlich:
»Willst du als Jüdin denn mit den Nazi-Omas zusammenwohnen?«
Sharon spürte mit einem Mal, dass ihre Nerven sich spannten, dass Julies Frage eine Wunde schlug, aus der ihre, Sharons, Unbefangenheit herausrann. Sie sah die Mädchen und den Jungen, die sie anstarrten, diese fast Gleichaltrigen setzten sich offenbar mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihres Landes auseinander, eines Landes, aus dem Sharons Vorfahren nach Palästina auswanderten. Und wenn nicht, waren sie von den Vorfahren dieser Jungen umgebracht worden. Heute hatte ein Nachkomme der Opfer mit den Nachkommen der Täter
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