Diesseits Des Mondes
irgendwann der Tod gnädiger gewesen war als die SS und sie erlöst hatte.
Bei diesen Versuchen hatte sich ein Münchner Arzt, S S-Untersturmführer Dr. R., besonders diensteifrig gezeigt. Seine Korrespondenz mit Reichsführer Heinrich Himmler war das beflissene Anschleimen eines gewissenlosen Verbrechers, der für seine bestialischen Morde von Himmler mit Delikatesspaketen belohnt wurde. Es gab einen Brief der Frau dieses Arztes an den »lieben hoch verehrten Herrn Reichsführer«, in dem sie sich für die Köstlichkeiten bedankte, die Himmler der Familie geschickt hatte. »Mein Mann bekam auch etwas davon mit ins KL (Konzentrationslager), weil er Schokolade so gern isst. Unser Sohn, Heinrich Peter, zappelt immer vor Aufregung, wenn ein Paket von Ihnen kommt.«
Weiter schrieb diese Arztfrau: »Mein Mann ist sehr glücklich, dass Sie den Versuchen so viel Interesse entgegenbringen, über Ostern hat er jetzt nur solcheVersuche alleine gemacht, bei denen Dr. Romberg doch nur Hemmungen und Mitleid gehabt hätte. Immer Ihre dankbare N. R.«
Als sie wieder daheim waren, suchten Sharon und Christin im Telefonbuch den Namen des S S-Arztes . Es gab einige Menschen dieses Namens im Ortsnetz München, allerdings nicht mit dem Vornamen des Arztes. Doch der Vorname der Frau, der eine Koseform sein musste, fand sich oder ließ sich vermuten. Christin rief dort an, und als sich eine Dame meldete, fragte Christin nach Frau N. R. Nach einer Sekunde des Schweigens sagte die Dame, dass sie Frau N. R. sei und was man von ihr wünsche. Christin legte mit einer Entschuldigung den Hörer auf.
Und alle behaupten, sie hätten nichts gewusst, sagte Christin.
5
Am nächsten Tag waren Christins Augen, die schon einige Zeit entzündet waren, voller Schlieren, und sie fuhren zur Augenklinik in der Mathildenstraße. Sharon trug Pablo auf dem Arm. Als sie sich am Eingang an der Tafel orientierten, sah Sharon einen Mann im weißen Kittel durch den Flur gehen. Es war Abel. Sharon, Pablo im Arm, rannte hinter Abel her, sie rief seinen Namen, obwohl sie wusste, dass es nicht sein konnte. Als sie kurz hinter ihm war, drehte sich der Mann um. Meinen Sie mich?, fragte er überrascht.
Es war Abel und es war nicht Abel. Natürlich nicht. Sharon stand vor ihm wie nach einer langen Reise, erschöpft und atemlos. Voller Freude. Sie sah ihn an, der Abel war und doch nicht Abel war, aber er war der, den sie gesucht hatte. Sein Haar, dunkel wie das von Abel, war lang und reichte weit in den Nacken. Seine Augen, waren sie blau oder grün? Er sah Sharon an, die zu erklären suchte, was nicht erklärbar war: Ich glaubte, ich meinte, verzeihen Sie bitte. Sharon stellte Pablo auf den Boden, er lief zu Christin, die zögernd näher kam. Sharon gab dem Mann, der noch sehr jung schien, ihre Hand, sagte ihren Namen. Er erwiderte, dass er sich freue, er heiße Alexander von der Heydte. Alexander brachte Sharon und Christin zu dem Arzt, der sich Christins Augen ansah. Währenddessen berichtete Sharon Alexander, dass sie ihn in Schwabinggesehen habe und seitdem suche. Ihn schien das keineswegs zu erstaunen. Dass ich so viel Glück habe, sagte er schließlich ernst, und es war Sharon, als versprühten seine Augen ein Freudenfeuerwerk.
Sie konnte es nicht begreifen, dabei war alles so einfach. Sharon wusste, dass dieser Tag sie für alles entschädigte. Wieder hörte sie ihre Großmutter: Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht. Doch sie, Sharon, wollte mehr, wollte alles. Der Wunsch, diese Freude für die Ewigkeit zu sichern, erfüllte sie, so dass sie zu zittern glaubte.
Christin kam von der Behandlung zurück und Alexander sagte zu ihr, dass es etwas zu feiern gebe. Können wir am frühen Abend miteinander essen, so dass auch dieser kleine Mann hier noch dabei sein kann? Zwei Frauen fühle ich mich unterlegen.
Alexander verabschiedete sich, er musste auf die Station.
Als Sharon mit Christin und Pablo auf die Straße trat, war ihr, als sei überall geflaggt. Die Häuser schienen zu strahlen, die Menschen – Sharon liebte jeden Einzelnen. Und jeden Hund, jede Katze. Christin erfuhr nun auch endlich, dass es Abel war, dass Alexander Abel war, den Sharon so lange schon suchte. Siehst du, sagte Christin, man muss es sich nur stark genug wünschen. Christins Stimme bebte. Der Tod, der ihr Bodo weggenommen hatte, war stärker als alle Wünsche.
Christin umarmte Sharon. Sie blieben auf der Straße stehen und sahen sich an. So
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