Diesseits Des Mondes
Spaghetti carbonara gegessen. Kein Schrei war erklungen, kein Meer hatte sich geteilt, nirgends brach die Erde auf.
»Ich bin Jüdin, ja«, sagte Sharon. »Aber ich möchte es sein, ohne dass mir daraus Nachteile entstehen oder ohne dass ich davon Vorteile habe. Ich möchte sein wie ein Christ, ein Brahmane, ein Moslem oder ein Mormone. Ich möchte nicht etwas Besonderes sein, weil ich Jüdin bin. Und deshalb denke ich, dass ich mit den Großmüttern in einem Haus leben kann. Eine Nazi-Oma oder eine Turbo-Nazi-Oma, darunter kann ich mir nichts vorstellen.«
»Meine Kinder können sich ebenso wenig darunter vorstellen«, sagte Birke ungehalten. »Sie sind respektlos und naseweis, sie fressen derzeit in den Medien alles, was sie über die Nazis und über den Antisemitismus geboten bekommen. Aber sie setzen sich nicht wirklich damit auseinander. Sie verurteilen nur, und über ihre Großmütter machen sie sich im Grunde nur lustig . . .« Während Birke redete, war Mauritz leise aufgestanden und in sein Zimmer gegangen. Danda hatte Julie bei der Hand genommen und hatte im Hinausgehen zu Birke gesagt: »Du verdrängst doch bloß, du traust dich ja nicht mal nach Dachau.«
Vielleicht, sagte Christin zu Sharon, vielleicht musstest du erst nach Deutschland kommen, um Jüdin zu werden.
Sharon schwieg. Sie dachte an Danda, die über Birke gesagt hatte: Du traust dich ja nicht mal nach Dachau. Christin sagte zu Sharon, dass sie bislang Scheu davor gehabt habe, mit ihr über das Dritte Reich zu sprechen. Ich kann durchaus verstehen, sagte Christin, wieso Adolf Hitler in Deutschland an die Macht kam. Ich kann auch verstehen, dass ihm die Menschen zugejubelt haben. Die so genannte Masse. Hitler hat den Menschen scheinbar einen Wert gegeben, eine Identifikation. Er tat das zwar aus Kalkül, doch das haben die Menschen nicht durchschaut. Hitler hat Massenveranstaltungen organisiert, die Leute fühlten sich als ein Teil von etwas Großem, Herrlichem. Deshalb sind sie Hitler gefolgt, sie haben ihm geglaubt bis zum Ende. Das kann ich begreifen. Nur die Verfolgung der Juden – die kann ich nicht begreifen. Dass da Tausende mitgemacht haben, Unschuldigezu quälen, zu erniedrigen und umzubringen, das geht nicht in meinen Kopf hinein. Dafür schäme ich mich tatsächlich gegenüber jedem Juden. Gegenüber dir. Ich verstehe auch nicht, wieso ein Deutscher heute noch einen Judenwitz machen kann.
Inzwischen fuhren sie und Christin auf der Dachauer Straße. Pablo in seinem Kindersitz sang Lieder vor sich hin, die nur er verstand. Sein Blick war nirgendwo, nur bei sich selbst. Sharon fühlte sich durch Pablo ständig an den kleinen Prinzen von Saint-Exupéry erinnert: »Wenn ein Kind auf euch zukommt, wenn es lacht, wenn es goldenes Haar hat, wenn es nicht antwortet, so man es fragt, dann werdet ihr wohl erraten, wer es ist . . .«
Nur wenige Autos standen um diese frühe Zeit auf dem Parkplatz vor dem Konzentrationslager. Nur wenige Besucher, die meisten offenbar amerikanische Familien, gingen mit ihren Kindern ebenfalls ins Lager. Sharon band Pablo in ein Tuch, das Christin ihr auf dem Rücken zusammenhakte. Scha-on, sagte Pablo, Scha-on.
Sie standen in einer großen Halle, vor einer Tafel, auf der die gesamten Konzentrationslager Hitlerdeutschlands aufgelistet waren einschließlich der Außenlager. Wie ein engmaschiges Netz hatten diese Orte des Gräuels über Deutschland gelegen. Dachau, in dem sie jetzt standen, hatte allein dreißig Außenlager: München, Germering, Ottobrunn, Bad Tölz, Eching, Landshut et cetera.
Warum, dachte Sharon, warum gehen wir durch ein Museum der Vernichtung? Warum geht man nach Dachau, Auschwitz oder Yad Vashem? Die Bilder der Gequälten tätowieren sich in unsere Seele. Warumschauen wir sie an? Als Mahnung? Es passieren doch jeden Tag und überall auf der Welt Verbrechen. Durch Gedenkstätten bringt man niemanden von Machtgier, Willkür und Grausamkeit ab. Sharon wusste nicht, ob Gedenkstätten sinnlos sind. Sie wusste aber, dass sie sich elend fühlte. Und Christin ging es ebenso.
Stumm gingen sie nebeneinander durch die Baracken. Stumm blieben sie vor Fotos stehen, die Verhungerte, Gequälte, Hoffnungslose zeigten. Besonders grausam waren die medizinischen Experimente an jüdischen Häftlingen. Die S S-Ärzte hatten Unterkühlungsversuche und Höhenflugversuche in Phasen fotografiert bis zum Tod der VP (Versuchsperson) genannten Menschen. Junge Männer schauten ohne Trost in die Kamera, bis
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