Diesseits Des Mondes
dem Credo dieser Gleichaltrigen identifiziert hatten, wenn sie auch durchaus mit Punks befreundet waren. Wie Danda mit Julie, die sich zwar nicht als Punk sah, aber wegen ihres Habitus oft als solcher angesehen und bewertet wurde. Danda hatte empört erzählt, dass Julie im Englischen Garten von Wachmännern in den Schwitzkasten genommen und weggeschleift wurde, weil sie eine Zigarette schnorren wollte. Einmal war sie vor einer Disco von Skinszusammengeschlagen worden. Alles hatte gegafft, niemand hatte ihr geholfen ...
Julie mit ihrer Abneigung gegen die Gesellschaft, mit ihrer Lust zur direkten oder indirekten Provokation, Julie mit ihrer Vorliebe für Sid Vicious – sie würde Krug helfen. Krug konnte sich immer darauf verlassen, dass auch Danda und Mauritz ihm halfen, wenn er an Jugendsendungen des Fernsehens oder des Rundfunks mitarbeitete.
Ob Krug eine Sendung über die Kinder der 68er vorbereitete oder über ungewollte Schwangerschaften bei Jugendlichen: Danda, Mauritz und Julie fanden immer Gleichaltrige, die auch ohne jede Scheu vor die Kamera gingen. Natürlich war es ein Anreiz, dass Krug den dreien dann von seinem Honorar einen Teil abtrat. Als er Julie anrief, versprach sie ihm, am nächsten Tag vorbeizukommen; klar kenne sie Punks, und für Geld täten sie alles.
Als Krug auflegte und wie gewohnt grübelnd aus dem Fenster schaute, verließ gerade Sharon das Haus. Sie schien Krug, der sie vor einer knappen Woche zum Bahnhof gefahren hatte, damals eine strahlende Geliebte, seit ihrer Rückkehr melancholisch, was Krug umso tiefer anrührte. Er beneidete Sharon, dass sie so viel empfinden konnte. Er, Krug, fühlte sich nur noch als Zuschauer des Lebens. Besonders dann, wenn er aus seinem Fenster starrte, unfähig, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Dann wurde sein Fenster zur Bühne, die gegenüberliegenden Häuser und Bäume zur immer gleichen Kulisse. Im Laufe des Tages traten die Schauspieler auf: Die Greisin, sommers wie winters mit einer Art Sturmhaube und Halsriemen bekleidet. Am Arm eines hübschen blonden Zivildienstleistendenmachte sie ihre Runde. Krug kannte ihre seltsamen Sprüche, ihre Befürchtung, dass Nymphenburg bald für immer schlafen werde. Sie selbst sammelte Joghurtbecher, füllte ihr Haus an mit Joghurtbechern, bis ein Verwandter sie entmündigen ließ, um selbst in das Haus einzuziehen. Die Greisin lebte jetzt bei einer Nachbarin, die ihr und den Joghurtbechern ein Zimmer frei machte. Gemeinsam mit dem zivildienstleistenden Jungen räumte sie nun heimlich das Zuviel an Joghurtbechern beiseite, damit Platz würde für neue. Gerade lief das Mädchen mit dem pinkfarbenen Trikot vorbei. Krug sah ihren lila eingefärbten Haarpony wippen, ihre beiden schwarzen Hunde liefen bellend vor dem Mädchen her. Mit ihnen liefen Hoffnung, Abenteuer, Erwartung. Jetzt kam auch das Ehepaar, das stets zuverlässig und gleichzeitig aus den Kulissen auftauchte. Der Mann, seitlich vornübergeneigt, verbindlich freundlich lächelnd, eilte dem Briefkasten entgegen, wobei er immer gegen den Wind anzukämpfen schien, jedenfalls lief er wie einer, der gegen den Wind ankämpft, sorgsam seine Briefe behütend. Seine Frau folgte ihm auf dem Klapprad. Ebenso freundlich lächelnd wie ihr Mann gegen den Wind kämpfte, trat sie in die Pedale. Exakt vor Krugs Haus überquerte ihr Mann die Straße, mit seinem hellen Blick grüßte er die Fahrbahn, stürzte sich geradezu vom Gehsteig, während seine Frau ihm wehmütig nachblickte, aber auf dem Gehsteig weiterradelte. Krug wusste nicht, was die beiden jenseits seines Fensterausschnittes machten. Anfangs hatte er sich vorzustellen versucht, wie die beiden die Dramaturgie ihres Auftritts auch zu Hause aufrechterhielten.
Die kalbsgroße Dogge, ebenfalls eine gute BekannteKrugs, zog eine alte Frau hinter sich her, wobei die Dogge sich offenbar jeden Tag neu dafür interessierte, was hinter dem Gebüsch los war, das die Garageneinfahrt begrenzte. Dahin wollte die Dogge, und die Dame wollte nicht mit. Krug verfolgte den stillen Kampf der alten Frau gegen die beharrlichen Wünsche der Dogge. Er nahm an, dass sich in diesem Stadtteil viele alte zierliche Frauen Hunde aus Tierheimen holten, ohne zu ahnen, was ihnen mit diesen Bastarden ins Haus wuchs. Die Frauen waren einander ähnlich, in den Mänteln, aber auch im Gesichtsausdruck, einer überraschenden Mischung aus Besitzerstolz, Hilflosigkeit und Trotz. Krugs Nachbar, dem das einzige Nachttopfmuseum der Welt gehörte,
Weitere Kostenlose Bücher