Diesseits Des Mondes
Sie mussten mitessen, es gab Hähnchen und Kaninchen mit Rosmarin und Thymian, dazu Kartoffelkuchen. Sharon lernte Italienisch: ›patate in tasfoglia‹, ›coniglio‹, ›pollo‹ und ›crustoli‹, ligurische Krapfen. Der Verwalter und seine Frau schauten auf Sharons Ring, auf Alexanders Ring, doch niemand sagte etwas. Aldo und Maria trugen die gleichen Ringe. Im Mondlicht gingen Sharon und Alexander zurück. Der Wald hatte viele Geräusche, viele Gefahren. Wildschweine gab es hier, Füchse. Alexander erzählte Sharon, dass ihm gestern zwei Bauern ein Kaninchen gebracht hatten. Lebend im Sack. Während es dort drin gezappelt und gebebt hatte, fragten die Bauern, ob Alexander das Kaninchen haben wolle. Er hatte bejaht, daraufhin hatte der eine das Kaninchen hinterm Haus geschlachtet und ausgenommen. Das Fell und die Innereien legte er ins Gras, am Morgen war davon nichts mehr zu sehen. Alles holten die Füchse.
Sharon ging eng neben Alexander, ohne Furcht. Sie atmete tief die Luft der Nacht, die hier nach Erde roch und nach Kräutern. Alexander zeigte ihr den Großen Wagen, der über dem Hausdach stand. DerMond stieg über den Berg, das ist der Rocca di Drego, flüsterte Alexander. Schatten wanderten ums Haus. Jeder Schritt kann eine Schlange treffen. La serpe, sie sei armdick und tödlich und sie jage immer im Mondlicht, sagte Alexander. Vielleicht geht der Fuchs auf seinen samtenen Pfoten und schaut nach, ob hinter dem Haus wieder Kaninchenfell serviert ist. Da schrie ein Nachtvogel, wild. Civetta, sagte Alexander. Dann war wieder Stille, eine Stille, die flüsterte.
Als sie ins Haus gingen, drehte sich Sharon noch einmal um, schaute zum Himmel, an dem jetzt die Lichter eines Flugzeuges zu sehen waren. Die Nachtmaschine nach Nizza, sagte Alexander. Sharon stellte sich vor, wie die Leute in der erleuchteten Kabine saßen, wie sie aßen, lasen, schliefen, eng beieinander und doch fremd. Es war Sharon, als sei dies Flugzeug eine Gefahr, ein Zeuge des Draußen, der Welt, aus der Sharon zu Alexander geflohen war. Ja, es war eine Flucht, eine Flucht in die Liebe.
Sharon wusste, sie konnte diesen Tag, diese Tage und Nächte hier mit Alexander nicht abgetrennt sehen von ihrem übrigen Leben, doch sie wollte am liebsten vergessen, dass es ein Draußen gab. Warum konnte sie nicht hier mit Alexander leben wie Aldo mit Maria und Nadia? Sharon wusste, dass es nicht sein konnte, sie wusste, dass Alexander in München sein Medizinstudium fortsetzen und außerdem im väterlichen Unternehmen mitarbeiten würde, das sich mit Medizintechnik beschäftigte. Mehr wusste Sharon nicht. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen. Am liebsten hätte sie Alexander zum Auswandern nach Australien bewogen. Das wäre so eine Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit der Chancen: Sie und Alexander,beide familien- und mittellos, in einem Land, in dem sie Unbekannte und Ungenannte waren.
In der Nacht regnete es. Als Sharon erwachte, als sie Alexander an ihrer Seite sah, im gemeinsamen Bett, allein in dem vom Regen umrauschten Haus, da war sie ihrer Vorstellung von Gefahrlosigkeit schon nahe. Sharon schmiegte sich eng an Alexander, sie küsste seinen kühlen Rücken und wünschte, dass dieser Augenblick stehen bliebe wie ein fotografiertes
Bild.
Am Morgen schaute Sharon zum ersten Mal bewusst in das Tal der Propheten. Es war hier wie dort alles grün, dunkelgrün, hellgrün, alle Schattierungen, nur Wald. Ein geschlossener Waldteppich aus Kastanien und Steineichen überzog die zerklüfteten Hänge, vom Fluss im Talgrund bis hinauf zu den Gipfeln.
Alexander hatte gesagt, dass ihr Tal der Propheten auf Ligurisch Valle Argentina hieße. Der Regen, der Sharon in der Nacht weckte, hatte schwere Wolkenbänke über den Bergkämmen aufgebaut, doch durch tiefblaue Wolkenfenster fiel Sonne ins Tal. Gelbe Sonnenfelder wanderten über die Berge, sie brachten das regennasse Grün der Wälder zum Blitzen. Die Stille am Morgen nach dem achten Schöpfungstag, die Stille am Sabbat, dachte Sharon. Sharon hörte einen Vogel, doch er brach sein Lied ab, als sei er erschrocken vom Widerhall seiner eigenen Stimme.
Das mit uns, sagte Alexander, der hinter Sharon getreten war und seine Arme um sie legte, das mit uns, das ist ein Zauber. Die Leute unten im Ort nennen das Magnetismo. Wir Deutsche zitieren eher Goethe, der an die Frau von Stein schrieb: ». .. Sag, was will das Schicksal uns bereiten?/Sag, wie band es uns so reingenau?/Ach, du warst in abgelebten
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