Diesseits Des Mondes
zusammen. Viele Fesseln hafteten. Viele Feinde verletzten. Viele zerstörten. Um der heiligen Dinge willen: Nun entspring den Fesseln! Entkomme den übermächtigen Feinden!
Krug erzählte Sharon, dass die Siegfried-Sage dieälteste deutsche Geschichte sei, die Sage von Siegfried, von seinen Kämpfen und Fahrten, von seinen Freunden und Feinden, von Hagen, Gunther und von Siegfrieds Liebe zu Kriemhild. Sharon sagte leise, und es klang wie eine Zauberformel: Insprinc haptbandun, invaar vigandun.
Als Sharon sich in der Garderobe für ihren Auftritt umziehen wollte, sah sie, dass ihr neues Kostüm, das erst kurz vor ihrer Abreise fertig wurde, verdorben war. Das perlenbesetzte Halsband mit den langen weißgoldenen Perlenschnüren war zerschnitten, der perlenbesetzte Tanga ebenfalls. Die Perlenschnüre, die am Oberarm in zehnfachen Reihen zusammengefasst waren in einer Brosche aus Schmucksteinen, waren aufgeschnitten. Die Perlen lagen lose in der Schublade. Ein weiteres Kostüm, enge weiße Seidenhosen, mit Pailletten bestickt, und ein dazugehöriges Oberteil, war völlig mit Make-up verschmiert und zerknittert.
Sharon sah die Perlen, die zerkratzt in der Schublade herumrollten, die roten Steine des Halsbandes und der Armspangen lösten sich aus dem Weiß der Perlen, schimmerten wie Blut. Sharon sah sich mit Christin stundenlang sitzen, die Perlen und Steine zusammenfügend zu einem Ganzen, das ihrer Vorstellung entsprach. Die Brutalität, mit der dies alles zerrissen und zerschnitten und beschmiert wurde, brachte Sharon aus dem Gleichgewicht, invaar vigandun, Sharon fühlte sich selbst zerrissen und beschmiert. Sharon hätte die Schminktische mit den Spiegeln zertrümmern, die Stühle ineinanderhauen, alles um sie her zerstampfen, anzünden mögen. Das Number Six anzuzünden, hätte ihrem Grimm entsprochen. Sie war so wütend, dass sie plötzlich alles umkippte, was sie erreichen konnte,dass sie Cremetöpfe, Haarföhne, Kämme, Puderquasten von den Tischen fegte. Die Mädchen, die sie bislang still belauert hatten, wichen jetzt kreischend zurück, nach Felngruber rufend, doch Sharon war so zornig, dass sie sich auf einen Zweikampf mit jedem eingelassen hätte, sie fühlte sich stark, so dass sie Felngruber einfach beiseiteschob, hinausrannte, fast erstickte an den Flüchen und Schreien, die sie für die anderen parat hatte. Diese Gojim, diese widerwärtigen, gemeinen Typen. Und sie, Sharon, hatte mitten unter ihnen getanzt. Hatte sich in Sicherheit gewiegt, unter einer schützenden Hülle hatte sie sich gewähnt. Woher hatte sie nur diese Chuzpe genommen, zu glauben, sie habe mit diesem nächtlichen Ausverkauf der Geilheit nichts zu tun?
Sharon lief auf die Maximilianstraße. Der regennasse Wind schlug ihr das Haar wie eine Fahne ums Gesicht.
Michael Krug, der in Harry’s Bar noch einen Whisky getrunken hatte, sah Sharon zum Taxistand laufen. Er begriff nicht, wieso sie dorthin wollte, und lief hinterher, ihren Namen rufend. Sharon blieb stehen, wartete auf Krug. Er sah, dass sie Mühe hatte, nicht zu weinen, ihr olivfarbenes Gesicht schien ihm blutleer. Krug legte seinen Arm um Sharons Schulter, schweigend gingen sie zu seinem Wagen.
Krug musste sich ein wenig hochrecken, denn Sharon war größer als er. In den Zeiten, als er noch mit Birke eng umschlungen gegangen war, ermüdete sein Arm auch rasch, denn Birke war ihm im Lauf der Jahre ebenfalls über den Kopf gewachsen. An den Hochzeitsbildern hatten sie es zuerst festgestellt. Obwohl Birke flache Ballerinas trug, war sie, Blumen imhochgesteckten Haar, größer als Krug erschienen. Diese Hochzeit!
Keiner, weder Birke noch Krug selber, wusste heute zu sagen, was sie zur Heirat bewogen hatte. War es das Drängen der Mütter, der Druck der Adenauer-Ära, war es ein Nesttrieb der vaterlos Aufgewachsenen? Oder war es Gewöhnung? Krug wusste zumindest genau, dass es keine Vertrautheit war, die ihn an Birke band. Eher das Gegenteil davon. Birke war ihm seit der Geschichte mit dem Elefanten fremd geworden. Aber er hatte trotzdem gewollt, dass sie sein Mädchen blieb. Sollen wir nicht besser Schluss machen?, hatte sie gesagt. So sprach man damals in derartigen Situationen. Ich habe Schluss gemacht. Birke schien für Krug weit weggerückt, er kannte sich nicht mehr aus in ihren Gedanken, in ihren Wünschen, in ihren Gefühlen. Er, Krug, kannte sich auch nicht bei sich selber aus. Er wusste nur eines, dass er Birke behalten wollte, behalten musste. Er hatte jedes Mal
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