Diesseits Des Mondes
Gegensatz zu Sharon. Er schien ihr unerreichbar, wie er – jetzt plötzlich auch verzweifelt? – einige Schritte neben dem Zug herlief. Versteinert hockte Sharon sich auf einen freien Platz. An der nächsten Station kamen Leute, sie hatten Platzkarten für das Abteil. Sharon legte ihre beringte Hand auf den Bauch, die andere Hand auf den Rücken. Ohne eine Sekunde zu überlegen,sagte sie: I’m pregnant. Darauf rückten die Platzkarteninhaber für Sharon zusammen, ein Mann fütterte sie mit Mandeln, die er für sie knackte, eine Frau steckte ihr eine Strickjacke in den Rücken. Tränen liefen Sharon übers Gesicht. Tränen der Sehnsucht, der Angst und der Scham. Sie wusste nicht, dass die Schwangerschaft bereits keine Lüge mehr war.
Als Sharon in München aus der Bahnhofshalle trat, drang kühle, feuchte Regenluft sofort durch die Kleider in ihre Haut ein. Sie fröstelte, war froh, ein Taxi zu ergattern, denn alle Fahrgäste stürzten sich auf die wenigen bereitstehenden Wagen. Es war Nacht, im Number Six lief jetzt die Show, doch Sharon wollte an Vignolo denken, wo jetzt die Schlangen im Gras auf Jagd gingen, wo der Nachtvogel schrie und man in der Stille glaubte, die Käfer von den Grashalmen plumpsen zu hören. Alexander. Vignolo. Valle Argentina. Das war für Sharon das Paradies. Der Regen, der auf das Taxidach herunterprasselte, erinnerte Sharon an die vergangenen Nächte, und sie beruhigte sich erst wieder, als das Taxi in die Nördliche Auffahrtsallee einbog und die Straße sie mit ihrer Stille unter den großen Bäumen empfing. In der Wohnung schien ihr das kleine, ganz in Weiß gehaltene Bad, dessen Schmuck ein üppiger Ficus benjamini war, der vertrauteste Raum, weil er die meisten Dinge enthielt, die Sharon mitgebracht hatte. Flaschen, Töpfe mit Lotion und Cremes, weiße Frottiertücher mit Sharons Namen. Sharon ließ gleich ein Bad ein, dem sie ihr Parfüm zusetzte, dann wusch sie ausgiebig Haut und Haare, legte eine Platte auf, die Christin ihr zum Abschied geschenkt hatte; Paul Simon,
Graceland.
Sharon hatte diese Platte bei Christin gehört, Diamonds on the soles of her shoes, People say I am crazy, I got diamonds on the soles of my shoes, Well that’s one way to lose These walking blues, Diamonds on the soles of my shoes ...
Sharon sah ihr Zimmer, ihre erste eigene Wohnung, auch wenn sie noch nicht viel Eigenes enthielt. Die Möbel waren offensichtlich aus Heydorn-Krugschem Besitz. An der Wand links von der Tür stand ein hübsches Biedermeiersofa aus Kirschbaum, ein Tisch aus derselben Zeit, zwei Stühle, mit dunkelgrünem Samt bezogen. Am Fenster ein großer bequemer Sessel vor einem kleinen, runden, hohen Tisch. Die Wand nahm ein Bücherregal ein, das Sharon noch nicht in Ruhe angeschaut hatte. Bände über die Geschichte der Philosophie hatte sie gesehen, die Deutsche Romantik in mehreren Bänden, Goethe, Nietzsche, Lessing, Schiller, Wieland, Hauptmann, Bert Brecht – ob diese Bücher von Michael Krug stammten oder von den Nazi-Omas?
Waren die Nazi-Omas belesen? Sharon hatte die Damen erst einmal kurz gesehen. Die eine, Birkes Mutter, war groß, hager und grau, ein Habichtgesicht mit kleinen wachen Augen. Michael Krugs Mutter war ebenfalls stattlich, das Auffallende an ihr war der dichte Haarschopf, von dem Sharon spontan gedacht hatte, dass es eine Perücke sein müsse. Die Damen hatten Sharon mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr angesehen. Doch die Neugier überwog offenbar bei weitem, denn Sharon fand einen üppigen Strauß frischer Astern und eine Schale mit Konfekt auf ihrem Tisch, als sie in die Wohnung einzog.
6
Michael Krug starrte aus dem Fenster. Die Arbeit an seinem
Kaiser von China
hatte er nicht ungern beiseitegelegt, da er sich nicht entscheiden konnte, ob der Neffe Wang den Kaiser verraten oder ob das Mädchen Shin Lan sich aus seiner Opferrolle in die Rolle der Verräterin entwickeln sollte. In dieser Lage war es Krug immer recht, wenn ein journalistischer Auftrag ihn ablenkte. Eine frühere Kollegin von der
Abendzeitung,
die jetzt Chefredakteurin eines Magazins war, bat ihn, möglichst rasch eine Reportage über die Situation der Punks und ihrer Familien zu schreiben. Krugs erster Gedanke war Julie. Sie konnte ihm dabei helfen, sie hatte Zugang zu dem Kreis der Leute, die Krug für diese Reportage brauchte. Er selber wusste wenig über Punks, zumal die Bewegung längst abgelebt war, zumal seine Kinder sich niemals auch nur im Ansatz mit dem Habitus oder mit
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