Diesseits Des Mondes
ihren Nagelmonden zurück und zupfte hin und wieder kleine Hautfetzchen ab. Ein großer dunkelhaariger Mann, der Krug gegenübersaß, zog vor Empörung über die Langeweile, die Krug ihm bereitete, die Luft laut durch die Zähne. Das war Krug noch bei keiner Lesung passiert, und er hatte Mühe, weiterzulesen, als der Mann aufstand und hinausging. Dann kehrte er jedoch noch einmal zurück, denn er hatte sein Bierglas vergessen. Krug sah alles mit seinem Scherenblick, sein Auge schien an dem leeren Stuhl des Großen festzufrieren. Der Stuhl hob sich hoch aus der Runde, er schien zu schweben, baute sich vor Krug auf und verkündete den Richtspruch. Du bist eine Null, Krug, ein Nichts. Krug nahm das Urteil sofort an, kürzte die Lesung um das letzte Kapitel, was niemand bemerkte.
Als Krug sich zurücklehnte, um den Mitgliedern des Anemonen-Kreises die Regie zu überlassen, kam der Biertrinker friedfertig zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl. Dafür erhob sich der Vereinsvorsitzende, er übernahm jetzt Krugs Abgesang. Sei ruhig, Aggi, rief er einer kleinen Dame mit Strohhut zu, die während der Lesung getuschelt hatte und auch jetzt auf ihre Nachbarin einsprach. Sei ruhig, Aggi, wiederholte der Vorsitzende, sei ruhig, sonst wirst du an die Luft befördert. Dann wandte sich der Vorsitzende mit der Bitte um Diskussion an seine Anemonenmitglieder. Nicht das auch noch, dachte Krug für einen Moment gepeinigt. Neben seinem Weinglas sah er einmehrfach gebrauchtes Kuvert, das offenbar sein Honorar enthielt. Krug sehnte sich weg. Er mochte gar nicht Sharon anschauen, tat es doch, fand sie, die neben ihm saß, in seinem Buch lesend. Bitte, rief jetzt der Vereinsvorsitzende beschwörend, bitte, Frau Röhrig, Sie haben doch Gerhart Hauptmann gekannt, haben Sie mit ihm niemals über Siegfried, den deutschen Helden, gesprochen? Ich habe ihn selbst ja gar nicht gekannt, wehrte Frau Röhrig in geschmeichelter Gekränktheit ab, ich hab ja nur beim Benvenuto sauber gemacht.
Ach, Benvenuto, murmelte der Vereinsvorsitzende überlegen, Benvenuto. Er war ja gar kein geistiger Mensch, aber so was soll’s ja geben, so was gibt es ja. Aber will denn sonst niemand mehr etwas fragen, Susi, willst du nicht Herrn Krug etwas fragen? Nein? Bekümmert zu Krug gewandt sagte der Vereinsvorsitzende, dass Susi in den Sechzigern den Schwabinger Kunstpreis bekommen habe. Eine blonde Dame versicherte Krug, dass sein
Siegfried
eine ungeheure innere Spannung habe, dass sie bestimmt einige Exemplare an Weihnachten verschenken werde.
Krug verabschiedete sich zu seiner und zur allgemeinen Erleichterung. Er bat Sharon, ihn noch kurz zu entschuldigen, er müsse dringend auf den Lokus. Das Hefeweißbier. Sharon nahm die Autoschlüssel, sie wollte im Auto weiterlesen. Als Krug sich in der Toilette die Hände wusch, fiel sein Blick in den Spiegel. Eine Ruine von einem Mann, du hast eine Stimme wie eine schnarrende Wetterfahne. Das war die Meinung seiner Mutter über ihn, als sie ihm neulich wieder sein unmäßiges Rauchen und Trinken, wie sie es nannte, vorhielt. Krug, der der Beschreibung seinerPerson durchaus beipflichtete, wenn er auch manchmal hoffte, dass sie nicht zuträfe, Krug rächte sich auf seine stille Art, indem er seine Mutter jetzt auch in seinen Gedanken zuweilen Turbo-Nazi-Oma nannte, was er anfangs seinen Kindern streng verwehrt hatte. Obwohl seine beiden Mütter ihre Zimmer im ersten Stock zum Hoheitsgebiet ihrer Vergangenheit erklärt hatten, in das sie nur offiziell einluden zum Essen oder zum Tee, obwohl beide Frauen sich hüteten, Vergleiche anzustellen mit den jüngeren Generationen, da sie wussten, dass ihre eigene Vergangenheit Zündstoff war, trotz all ihrer Vorsicht konnte es Krug nicht entgehen, dass die beiden Damen derzeit um Rudolf Heß weinten. Krug fand die Zeitungen in der Mülltonne, aus denen die Artikel um den Tod des lebenslangen Häftlings ausgeschnitten waren. Krug überließ seine Mütter schon seit langem ihrem Rechtfertigungswahn.
Sharon saß in Krugs Wagen, hatte die Innenbeleuchtung eingeschaltet und las. Als Krug sich auf den Fahrersitz setzte, hielt Sharon ihm eine Seite seines Buches hin, auf der es hieß: Eiris sazun Idisi, sazun hera douder Suma hapt heptidun, suma heri Lezidun, Suma glubodun, umbi conniouidi, insprinc haptbandun! invaar vigandun!
Was ist das für eine Sprache?, fragte Sharon, was heißt das? Krug übersetzte aus dem Althochdeutschen: Einstmals setzten sich Idis und Heras Tochter
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