Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
schnell. Die wenigen Bewohner von Glücklitz, die ich auf den Straßen des Dorfes traf, bemühten sich, mich auf Russisch zu begrüßen. Der Wortschatz, den sie aus dem ostdeutschen Unterricht noch hatten, reichte dafür immer noch aus. Sie sagten »kak dela«, »spasibo«, »dawai« und natürlich »Dostoprimeschatelnosti« – ein für ungeübte Sprecher unglaublicher Zungenbrecher, der auf Deutsch »Sehenswürdigkeiten« heißt. Ich glaube, die sozialistische ostdeutsche Regierung hat damals dieses Wort extra ins Schulprogramm aufgenommen, um die Bevölkerung damit zu testen. Denn nur jemand, der »Dostoprimeschatelnosti« buchstabieren konnte und mindestens einen russischen Brieffreund hatte, galt als kommunismusreif.
Viel Wasser ist seitdem in den Glücklitzer See geflossen, viele Wolken am Himmel vorbeigezogen. Die DDR ist vor einem Vierteljahrhundert untergegangen, die russischen Brieffreunde schreiben schon lange nicht mehr zurück, und aus den Trabbis wurden Aschenbecher. Aber der russische Zungenbrecher lebt im Unterbewusstsein der Ostdeutschen fort, als wäre er ein Teil des geheimen Codes, der uns vor den Abgründen des Lebens schützt und die Antwort auf die wichtigste Frage gibt, eine Frage, die wir leider vergessen haben. Aber die Antwort kennen wir. Sie lautet: Sehenswürdigkeiten.
In der Schule war es bestimmt eine unerträgliche Folter, dieses Wort. Eine sinnlose Aneinanderreihung unbekannter Buchstaben, die es auswendig zu lernen galt. Wahrscheinlich haben damals die meisten Russisch gehasst. Doch wie es oft im Leben ist, kommt mit dem Alter das früher Gehasste als einmaliger Schatz wieder ins Bewusstsein zurück. Das unfreiwillig eroberte Wissen wartet nur darauf, dass sein Inhaber einen Russen auf der Straße sieht. Dann macht es klick , und tief im Unterbewusstsein öffnet sich plötzlich ein kleines Türchen, die Sehenswürdigkeiten springen heraus und sagen: Hallo! Wir sind es, die Dostoprimeschatelnosti. Hast du uns vermisst?
Eines Tages fischte ich eine Serviette aus unserem Briefkasten auf dem Land. Darauf stand in Schönschrift geschrieben:
Lieber Nachbar Wladimir,
wir verkaufen das schöne Haus an der Ecke
mit großem Garten und Seeblick. Sagen Sie bitte
Ihren Landsleuten Bescheid, vielleicht haben
sie Interesse.
Wir wunderten uns über dieses Angebot, und vor allem darüber, dass ausgerechnet unsere Landsleute darin bevorzugt wurden. Ich zeigte meinem Dorfnachbar Mathias, dem Schlüsselwart vom »Haus des Gastes«, den Brief und fragte ihn, was er davon halte. Mathias lachte darüber, dass die Glücklitzer sich über den Zuzug von Russen freuten. Er selbst war ebenfalls ein Zugezogener und noch gar nicht so lange in Glücklitz.
Er meinte, das Russeninteresse der Dorfbewohner sollte man eigentlich nutzen und unbedingt eine Russendisko in Glücklitz veranstalten. Am besten ehrenamtlich, damit er den Reingewinn für eine Neuauflage der Chronik unseres Dorfes nehmen könne. Die Chronik war nur in einer kleinen Auflage gedruckt worden und lange auf Platz eins der Glücklitzer Bestsellerliste gestanden, sodass die fünfzehn Exemplare schnell vergriffen waren. Es war längst an der Zeit, eine neue, erweiterte und verbesserte Auflage zu drucken, nur fehlte das Geld dafür.
Mir kam die Idee, in Glücklitz eine Russendisko zu veranstalten, ziemlich skurril vor, obwohl wir, ehrlich gesagt, in der letzten Zeit an zunehmend skurrileren Orten Musik gemacht hatten. So war die Russendisko sogar Höhepunkt des Deutschen Kirchentages in Dresden gewesen. Wir sollten dort im Foyer des Hygiene-Museums für junge und alte Christen Musik auflegen. Aber nur bis Mitternacht, denn gute Christen dürfen nicht zu spät ins Bett gehen, damit sie am nächsten Tag zeitig aufstehen und genug Kraft für gute Taten haben. Ich stellte mir einen ruhigen, entspannten Abend vor, wurde aber eines Besseren gelernt. Noch nie hatte die Menge so wild und ausgelassen getanzt wie in Dresden. Sie fing zu tanzen an, noch bevor ich überhaupt irgendeine Musik aufgelegt hatte, aus innerem Antrieb sozusagen. Danach war sie nicht mehr zu halten.
Bevor wir ins Museum kamen, war ich mehrmals interviewt worden und hatte an einer Gesprächsrunde mit ehemaligen KZ -Häftlingen und Überlebenden des Krieges teilgenommen. Das Thema des Tages war »Versöhnung«. Also wollte man von mir wissen, wie Versöhnung auf Russisch hieß, was die Russen überhaupt von den Deutschen hielten, von Deutschland im Allgemeinen und von Dresden im
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