Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Vögel am Himmel, die Menschen am Ufer.«
Mich hat seine pazifistische Haltung, ehrlich gesagt, enttäuscht. Ich hatte ihn extra zum Glücklitzer See gefahren, damit er mir mit seinen umfangreichen Fischererfahrungen half, endlich einigen Brandenburger Fischen in die Augen schauen zu können. In seinem früheren Leben hatte mein Freund nämlich als zweiter Kapitän auf dem Fischerboot Karl Marx gedient. Das Weiße Meer, Nordsee, Ostsee und einige Seen mehr hat er auf seinem Kutter mit einem zwei Kilometer langen Netz durchkreuzt und tonnenweise Fisch auf dem Gewissen. Ein paar Brandenburger würden da nicht mehr ins Gewicht fallen, dachte ich und hatte sogar extra einen Angelschein für ihn bestellt. Alles umsonst.
Dafür schwelgte Oleg gern in Erinnerungen. Er erzählte immer wieder, wie seine Karl Marx vor vielen Jahren einmal bei Stralsund aufgrund eines technischen Defekts vor Anker gehen musste und vom Ministerium der Flotte für mehrere Monate vergessen worden war. Die Matrosen hatten jedoch weiterhin jeden Tag Urlaubsgeld in Höhe von 46 Ostmark und genehmigten Ausgang bekommen. Sie hatten nichts zu tun, hingen in den Diskos herum und machten die Bars der Umgebung unsicher. Es fehlte nicht an romantischen Liebesabenteuern, denn russische Matrosen standen bei den einheimischen Mädchen hoch im Kurs. Es war ein Leben wie im Paradies. Oleg tat alles in seiner Kraft Stehende, um die Reste an Disziplin auf der Karl Marx aufrechtzuerhalten. Ziemlich erfolglos. Damals in Mecklenburg wurde ihm klar, dass der Sozialismus in seiner russischen Variante als Bürokratenstaat auf Dauer nicht existieren konnte. Und ehe seine Matrosen aus den Diskos zurückgekehrt waren, war es auch um den Sozialismus geschehen.
Wie die Ostdeutschen hatten auch die Russen damals zwei Leben: eines vor und eines nach dem Ende ihres Regimes. In seinem neuen Leben hatte Oleg nichts mehr mit Fischen zu tun. Er schloss eine neue Ausbildung ab und handelte nun mit Immobilien. Auf alle Fragen zu seiner Arbeit antwortete er, er sei »Investor«. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Der neue Job hatte ihm Wohlstand gebracht und einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, den er früher nicht gehabt hatte. Nun schaute er von der Höhe seiner zwei Leben herab auf die Welt, als wollte er sagen, jede Mühe sei vergebens und nichts als eine sinnlose Jagd nach dem Wind. Nach vielen Jahren war er nun wieder nach Deutschland gekommen, zum ersten Mal nicht als Matrose, sondern eben als »Investor«.
Wir saßen auf der Terrasse direkt am See. Man konnte zwei kleine Anglerboote am anderen Ufer sehen, die gegen den Wind navigierten. Seit zwei Tagen wütete ein starker Nordwind und blies sogar unsere auf dem Dach festgeklebten Vogelscheuchen – zwei hässliche Plastikkrähen – um. Sofort nahmen die lebendigen Vögel ihren Platz auf dem Dach ein, eine brandenburgische Amsel-Familie kackte uns fortan in die Fenster und sang am Morgen ostdeutsche Volkslieder. Fast niemand von seinen früheren Seekameraden sei in der Branche geblieben, erzählte Oleg. Die Kapitäne waren fast alle Investoren oder Ähnliches geworden. Doch anders als er würden sie regelmäßig zum Fliegenfischen ans Weiße Meer fahren. Das Fliegenfischen war die neueste, modernste, sportlichste Angelvariante und auf gutem Weg, das herkömmliche Angeln für immer zu verdrängen.
»Wenn du willst, kann ich dir eine solche Fliegenfisch-Tour organisieren. Sie ist bei Ausländern wie bei Einheimischen sehr beliebt. Iren kommen, Norweger, sogar Finnen fliegen extra nach Wladiwostok, um dort ihre Fliegen einzuwerfen. Profis unterscheiden zwischen nassen und trockenen Fliegen. Die nassen sinken etwas unter Wasser, die trockenen bleiben an der Oberfläche. Beim Fliegenfischen steht der Angler nicht reglos am Ufer, sondern wirft seine künstliche Fliege am Haken immer wieder ins Wasser, bis sich ein Fisch den Köder schnappt. Willst du wissen, wie Fliegenfischen funktioniert? Ganz einfach«, erzählte Oleg:
»Die Fische werden in die Irre geführt. Wie alle Lebewesen. Wir werden doch alle auf die gleiche Art und Weise abgefangen, verführt, in eine Falle gelockt. Wir fallen unseren Erinnerungen zum Opfer. Jeder trägt eine schöne Erinnerung in sich an etwas Heimisches, ungemein Leckeres, Einmaliges. Wir suchen das Vergangene in der Gegenwart, und wenn wir es finden, ist es fast immer eine Falle. Nicht anders ist es bei den Fischen, zum Beispiel den Lachsen nahe Wladiwostok. Der Lachs wächst in einem See,
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