Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
und als Baby isst er gerne kleine Mücken und Fliegen, die auf der Wasseroberfläche landen. Später wird der Fisch groß und stark, er schwimmt ins Meer, wechselt vom süßen ins salzige Wasser, und er vergisst die Mücken und Fliegen. Seine Ernährungsgewohnheiten ändern sich komplett.
Doch zum Laichen schwimmen die Lachse wieder dorthin, wo sie geboren wurden. Der große Lachs sucht den Weg vom Meer zurück in den See seiner Kindheit. Mit einem inneren Kompass ausgestattet findet er die richtige Route, kehrt an den Ort seiner Geburt zurück und bleibt dort zur Entsalzung für längere Zeit stehen. Manchmal vergehen Wochen, in denen der Fisch nichts isst. Äußerlich bleibt der Lachs groß und stark. Innerlich verwandelt er sich in ein Baby. Er kann nichts mehr essen, hat auf nichts mehr Appetit, abgesehen vielleicht von der großen bunten Fliege, die er einmal, als kleiner Jungfisch, auf der Wasseroberfläche gesehen hat. Es war eine ganz besondere Fliege. Sie war groß und bunt, leuchtete grün und blau und landete direkt vor seinem Maul. So schaut der Fisch nach oben und wünscht sich, dass das Wunder noch einmal geschieht, dass die große Fliege aus seiner Kindheit noch einmal vor ihm auftaucht. Alle Welt weiß, wenn man sich etwas sehr lange und sehr stark wünscht, dann wird es auch früher oder später wahr. Das steht in jedem anständigen Märchen geschrieben. Und so landet auch die bunte Kindheitsfliege wieder vor dem Lachs. Nur hat diese Sache aber einen Haken. Einen scharfen Haken … So funktioniert das Fliegenfischen«, sagte Oleg.
Eine Weile hörten wir dem Wind zu.
»Das kann man beidhändig oder mit einer Hand machen, und natürlich brauchst du eine ganz andere Ausrüstung dafür«, erzählte er nach einer Pause weiter. »Wenn du willst, können wir zusammen nach Wladiwostok fahren und Fliegenfischen gehen. Ich mache mir zwar nichts aus Angeln, aber für dich würde ich eine Ausnahme machen.«
Ob die falschen Fliegen nicht eine größere Verarschung als lebende Würmer seien, fragte ich ihn.
»Ach was«, meinte Oleg. Seine Tätigkeit als Investor wäre ein ständiges Fliegenfischen. Seine Kollegen, die Investoren, wir alle werden tagtäglich gefangen in einem nicht enden wollenden Traum, der uns leiden und hoffen lässt, um uns am Ende noch weiter vom Gewünschten und Erträumten wegzubringen.
»Neulich hatte ich in Moskau ein Investorentreffen in einem spanischen Gourmetrestaurant«, erzählte mein Freund weiter. »Ich kam etwas früher und sah, wie direkt vor dem Haus eine alte Dame, die wie meine erste Lehrerin aussah, auf der Straße etwas schmerzlich Bekanntes verkaufte. Es waren glasierte Quarktaschen, in gelb-silberne Folie gewickelt, die süße Wonne meiner Kindheit. Nur sind die Quarktaschen mittlerweile unverschämt teuer geworden: Damals in der Sowjetunion kosteten sie fünfzehn Kopeken, heute dagegen dreißig Rubel, dafür aber auf dem freien Markt und ohne Warteschlange. Eigentlich kaufe ich nie Essen auf der Straße, und vor dem Essen zu essen ist sowieso nicht ratsam, doch es war, glaube ich, Instinkt. Wie ein nostalgiekranker Lachs investierte ich sofort hundert Rubel in meinen Kindheitstraum. Er schmeckte ekelhaft süß und verklebte mir den Rachen. Ich konnte das grausame Zeug weder ausspucken noch runterschlucken, so etwas Schlimmes ist mir noch nie passiert. Zum Glück hatten die Quarktaschen keine Haken«, lächelte Oleg.
Der Mensch ist unsicher, seine Pfade sind eng und traurig. Deswegen freut er sich über jede Abweichung von der Route, über jede bunte Fliege, die vor seiner Nase landet. Außerdem schließt der Mensch immer von sich selbst aufs große Ganze, in seiner eigenen Zukunft sieht er die Zukunft aller, und wenn es ihm nicht gut geht, spricht er gleich vom Ende der Welt. Seine Erinnerungen halten ihn fest im Griff, sein Wille zur Veränderung, seine Stimme ist mit alten Quarktaschen verklebt.
»Nein, also, ich mache mir wirklich nichts aus Angeln«, wiederholte Oleg. »Die Jagd dagegen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »ist schon eine tolle Sache. Von Wladiwostok fliege ich mit dir nach Chabarowsk. Dort in den Wäldern habe ich Freunde, die organisieren uns eine Bärenjagd. Hast du schon mal einem Bären in die Augen geblickt?«, fragte mich Oleg und schaute mir dermaßen herausfordernd in die Augen, als wäre er selbst der Bär.
Unsere Dorfrussendisko
Die Nachricht, die Russen seien im Dorf, verbreitete sich trotz unseres dezenten Nichtstuns
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