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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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etwas Triviales wie Pfandfinder mit so etwas Romantischem wie den Pfadfindern verwechselt hatte. Man lernt eben nie aus. Ach, was soll’s, dachte ich. Wir suchen alle gerne, ob Pilze im Wald, die Liebe fürs Leben, große Versprechungen oder leere Flaschen. Und jeder Fund ist ein Grund zum Feiern. So machte ich die Musik immer lauter, und das Tanzen wurde ekstatischer, bis irgendwann die Pfadfinder und die Pfandfinder nicht mehr auseinanderzuhalten waren.
    Aber hier im Dorf waren die Menschen doch nicht zum Spaßen aufgelegt. Die wenigen Glücklitzer, die ich kannte, konnte ich mir tanzend überhaupt nicht vorstellen, sagte aber Mathias gegenüber nicht nein. Ich schämte mich in dieser Situation, ihn zu enttäuschen, und versprach, falls Interesse bestünde, am letzten Sonntag im August eine Russendisko in der Dorfscheune zu veranstalten. Die Nachricht breitete sich schnell aus. Unser Nachbar Helmut versprach, er würde mit seiner Frau, seiner Nichte und dem Schwiegersohn kommen. Die Töchter von Mathias und sogar der sympathische Landbaron Heiner von der gegenüberliegenden Flussseite, der bunte Blumenbeete und die Ruine einer alten Ziegelei auf seinem Grundstück hatte, freuten sich über die Disko. Heiner träumte davon, dass die Menschen weniger Landwirtschaft und mehr Spaß und Kultur betrieben und ihre Felder nicht in Maisflächen, sondern in Parkanlagen verwandelten. Alle würden kommen, versicherten mir Mathias und Heiner.
    Eine Woche später schrieb mir Mathias, die Disko sei bereits ausverkauft, 164 Sitzplätze reserviert, Bier und Würste auf Vorrat eingekauft, um 19.00 Uhr solle die Sache starten, die Party werde abgehen wie eine Rakete. Viele fragten, ob man unbedingt Russisch können müsse, um an der Veranstaltung teilzunehmen. Die Russischkenntnisse vieler Dorfbewohner hätten seit der Schulzeit doch etwas nachgelassen, erklärte Mathias.
    Mich machten diese Nachrichten unsicher. Was wurde von mir erwartet? Wer brauchte Sitzplätze in einer Disko, und war 19.00 Uhr nicht ein wenig zu früh für den Spaß? In der darauffolgenden Nacht führte mir ein Albtraum alle Schrecken dieses Tanzabends vor Augen. Ich tanzte allein wie ein Blödmann in der Scheune, und vor mir saß das ganze Dorf auf reservierten Sitzplätzen – Helmut, Mathias und Heiner mit Frau, Kind und Enkelkind –, aß Würste, trank Bier und schüttelte die Köpfe. Beim Aufwachen wusste ich sofort: Das war kein Traum, sondern eine Warnung. Mir war ein Blick in die Zukunft gestattet worden. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an meine Familie, mit der Bitte, mit mir in der Scheune zu tanzen.
    Die Kinder dachten gar nicht daran. Sie hatten überhaupt nicht vor, aufs Land zu fahren. Völlig in ihrer Pubertät gefangen, warteten sie nur darauf, dass wir abhauten und ihnen eine elternfreie Bude hinterließen. Meine Tochter, die zwei Wochen später ihren sechzehnten Geburtstag feierte, bereitete sich mit vollem Einsatz darauf vor. Sie bat uns, ihr in diesem Jahr keine Geschenke, sondern einfach Geld zu geben, möglichst eine große Summe in kleinen Scheinen. Die Verwandtschaft könne ja mit zusammenlegen. Im Übrigen meinte sie, habe es wenig Sinn, damit bis zu ihrem Geburtstag zu warten, denn der sei ja erst in zwei Wochen, sie brauche das Geld jedoch schon jetzt. Ihr sehnlichster Wunsch wäre es also, das Geburtstagsgeschenk im Voraus zu kassieren. Danach könnten wir nach Glücklitz und dort tanzen – sie hätte Besseres zu tun.
    Mein Sohn hatte auch nicht vor mitzukommen. Viel lieber würde er sich ein wenig von den Eltern erholen, die Teppiche in der Wohnung wegräumen und ein paar Tricks mit dem Skateboard lernen. Nur meine Frau nahm sich mein Diskoproblem zu Herzen. Sie telefonierte mit ihren Freundinnen. Stella, Natella, Leila und Frau Müller versprachen mitzukommen, so hatte ich schon vier Tänzerinnen im Sack.
    »Es wird bestimmt gutgehen«, beruhigte mich Mathias, als ich meine Bedenken äußerte. »Die Menschen hier sind nicht an Russendiskos gewöhnt, lass ein wenig Zeit zum Eingewöhnen«, meinte er.
    Am verabredeten Abend gingen wir zur Musikscheune. Das ganze Dorf hatte sich bereits versammelt, mit Bier und Kind, wie ich schon vermutet hatte. Zum Eingewöhnen hatte ich eine neue Platte von uns dabei mit dem lustigen Titel »Lieblingslieder der deutschen Taxifahrer«. Darauf sangen Menschen aus Russland, Spanien, Finnland, Bayern und der Türkei auf Deutsch. Mit dieser Platte wollte ich die Glücklitzer zum Tanzen

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