Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
verführen. Die Musik kam überraschend gut an, noch besser aber die Mädels. Wir Menschen neigen doch sehr zur Nachahmung. Kaum sahen die Glücklitzer Stella, Natella, Leila, Frau Müller und meine Frau Olga tanzen, schon konnten sie nicht mehr still sitzen. Zuerst kletterten die Familienväter auf die Bühne, um mit den Mädchen einen russischen Tanz zu probieren. Ihre Frauen sprangen daraufhin ebenfalls hoch, um ihre Männer auf diesem gefährlichen Weg nicht alleinzulassen. Und die Kinder zogen nach, um ihren Eltern ein wenig den Spaß zu verderben. Nach zwanzig Minuten tanzte die ganze Scheune zu dieser für sie doch sehr fremden Musik.
Die Tanznacht ging länger als erwartet, viele fragten mich, ob und wann die nächste Dorfrussendisko geplant sei.
»Ihr Russen seid ein lustiges Völkchen«, meinte mein Nachbar Heiner. Dabei werde ständig von der Unfreundlichkeit, gar Grimmigkeit der Russen erzählt.
Über Brandenburger werde dasselbe erzählt, dass sie zurückhaltend und schweigsam seien. Aber wenn es bei denen zünde, gäbe es keine Ruhe mehr, parierte ich.
Die Grimmigkeit der Russen ist jedoch nicht ausgedacht, sondern sozusagen empirisch belegt. Ständig beklagen sich Journalisten, die gerade von einer Russlandreise zurückkehren, darüber. »Ein wunderschönes Land, aber diese Grimmigkeit der Russen, ihr stets unzufriedener Gesichtsausdruck, als wäre jeder Tag ihr letzter!« Solche Anschuldigungen höre ich oft. Es ist schon vielen aufgefallen, dass die Russen irgendwie komisch gucken. Selbst dem russischen Zaren Iwan dem Schrecklichen war dieser Umstand aufgefallen. Er fragte sich schon, warum die Menschen in seiner Umgebung so wenig lachten. Um seine Untertanen aufzulockern, entwickelte er ein sehr eigenes »Gute-Laune«-Konzept. Er befahl seiner Garde, auf die Straßen zu gehen und jedem, der grimmig guckte, eine runterzuhauen. Diese Verbesserungsmaßnahme wurde lange praktiziert, brachte aber wenig Erfolg. Später versuchten auch die anderen russischen Herrscher vergeblich, das Volk zum Lachen zu bringen. Es endete in einer blutigen Revolution.
Der neue, von den Handschellen der Monarchie befreite Bürger, sollte, nach Überzeugung der Revolutionsführer, endlich lächeln lernen. Doch dessen stets besorgter Ausdruck blieb. Auch das fröhliche Marschieren auf dem Roten Platz, das als Medizin gegen die Grimmigkeit der Bevölkerung verordnet wurde, heilte nicht. Auf den Bildern von den großen Paraden aus der Sowjetzeit sieht man deutlich, dass nur die ersten Reihen fröhlich mit Fahnen winken, die Masse dahinter schleppt sich mit so angewidertem Gesichtsausdruck über den Platz, als würden sich alle gleich übergeben.
Ich glaube, die Ursache dieses Phänomens liegt in der Weltanschauung der Russen. Denn jedes Volk, jede Nation hat eine eigene, oft archaische Vorstellung vom Wesen unseres Planeten. Die Inder zum Beispiel sind Fatalisten, für sie ist die Erde eine Art süßes Fladenbrot. Dieses Brot liegt stabil auf dem Rücken einer Schildkröte, die von drei großen Elefanten durchs All getragen wird. Nichts kann das Fladenbrot aus dem Gleichgewicht bringen. Sich selbst sehen die Inder als unwichtigen Puderzucker auf dem Fladen, leicht und weiß und jede Sekunde bereit wegzufliegen. Deswegen schauen sie so entspannt und lächeln gerne mit und ohne Grund.
Für die Amerikaner ist die Erde ein wildes Pferd, das es zu zähmen gilt. Das Pferdchen weigert sich und versucht mit wilden Sprüngen die Amerikaner abzuschütteln. Doch mit einem guten Lasso und sicherer Hand lässt sich früher oder später jedes Pferdchen zähmen. Die Amerikaner schauen daher selbstbewusst auf die Welt, sie strahlen Sicherheit und Tatendrang aus.
Die Deutschen sehen dagegen überall Chaos. Und ihre Aufgabe besteht darin, aus dem Chaos Ordnung zu schaffen, das schier Unübersichtliche, Unlenkbare und Unbegreifliche in eine handliche Form zu bringen und die Erde in etwas Gemütliches und Nützliches zu verwandeln, eine Art Königsberger Klops, praktisch und rund. Sie blicken deswegen nachdenklich und kritisch auf die Welt.
Für die Russen ist diese Welt ein Kurzer – ein Schnaps in der Hand des Großen Unbekannten. Die Russen fragen sich ständig: Trinkt er alles allein aus? Kann er teilen? Sie wissen über die Vergänglichkeit der Welt Bescheid. Sie wissen, wie schnell es geht, den Planeten wie ein Glas zu kippen. Braucht der Große Unbekannte Mittrinker? Und wenn ja, worauf werden wir anstoßen, wenn es so weit ist?
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