Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
das kann jeder von den Grabsteinen des hiesigen Friedhofs ablesen. Alle dort liegenden Leute sind entweder Ende des neunzehnten oder Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren. Die später Geborenen sind noch nicht gestorben und haben das anscheinend auch nicht vor.
Der für Angelscheine zuständige Hartmut, der mit seiner sehr alten Mutter um die Ecke wohnt, ist übrigens selbst als Angler erfolgreich. Ständig sehe ich ihn einen Fisch aus dem Wasser des Glücklitzer Sees ziehen. Manchmal denke ich, Hartmut zieht immer denselben Fisch aus dem Wasser, und zwar den, der mir einmal durch die Lappen gegangen ist. Der Fisch und Hartmut haben eine Abmachung getroffen: Immer wenn ich in der Nähe auftauche, wirft sich der Fisch Hartmut an den Haken, um mich zu ärgern und zu einem erneuten Kauf des Angelscheines zu bewegen. Später lässt der Nachbar den Fisch wieder frei.
Die Idee für diese Folter hatte bestimmt der Fisch, das würde ich ihm gönnen. Die Intelligenz der Fische wird allgemein unterschätzt. Eigentlich ist es kein Wunder, dass ich bis jetzt als Angler im Glücklitzer See kein Glück hatte. Manchmal frage ich mich schon, warum es sich die Fische anderswo gefallen lassen, gefangen zu werden. Ich habe etliche wissenschaftliche Bücher über diese Wasserbewohner gelesen und kann nun bezeugen, dass von allen Lebewesen der Welt Fische die schlauesten sind. Sie haben ein Gehirn, das imstande ist, immer weiter zu lernen. Sie sind erstaunlich beweglich, gut organisiert, sie kommunizieren miteinander – besser als Ameisen – und können im Schwarm in Sekundenschnelle gemeinsam den Rückwärtsgang einlegen. Außerdem sind Fische anpassungsfähig und ändern je nach Wetterbedingungen und nach Gefühl ihr Verhalten. Sie sind übervorsichtig, höchst empfindlich und misstrauisch. Sie reagieren auf die kleinsten Veränderungen der Außentemperatur. Sie können die Augen um 180 Grad drehen und sogar in verschmutztem Wasser und dunkler Tiefe mehrere Meter weit in jede Richtung sehen. Fische hören, riechen und haben noch den geheimnisvollen sechsten Sinn, die sogenannte Intuition, die sie spüren lässt, was in der nächsten Zeit passieren könnte.
Eigentlich sind Fische die Superwesen der Evolution, die viel weiter entwickelt sind als wir Menschen. Warum es bloß immer wieder dazu kommt, dass diese Superwesen einem dummen Angler an den Haken gehen, einem kleinen Männchen mit komischem Schnurrbart, der noch immer bei seiner Mutter wohnt und nichts Besseres zu tun hat, als Plastikwürmer in unnatürlichen Farben ins Wasser des Glücklitzer Sees zu hängen – unbegreiflich.
Ich hätte sehr gerne mit den Fischen darüber gesprochen, um ihnen das ganze Elend dieses Verhaltens vor ihre sich um 180 Grad drehenden Augen zu führen. Aber einem ungeschriebenen Gesetz zufolge reden die Fische mit niemandem darüber. Sie reden überhaupt nicht, werfen sich an den Haken, schlucken den Plastikwurm und lassen sich sonst nie vom Menschen quälen. Erst vor Kurzem habe ich gesehen, wie Hartmuts Mutter am Ufer stand und laut »Hartmut!« rief. Sofort hatte ihr Sohn einen Fisch am Haken. Wahrscheinlich hat der Fisch auch einen Namen, überlegte ich. Wahrscheinlich heißt er auch Hartmut. Ich bin endlich dem Geheimnis des Angelns im Glücklitzer See auf die Schliche gekommen. Jeder hier muss seinen eigenen Fisch, seinen eigenen Hartmut haben, den er aus dem Wasser zieht und später wieder hineinwirft.
Deswegen sitzen die seltenen Angler so entspannt am Ufer des Glücklitzer Sees. Sie wissen ganz genau, was kommt. Sonst haben die Menschen eigentlich immer Angst vor der Zukunft, oder sie sind neugierig, sie rätseln. Wird der Meteorit im Jahre 2036 die Erde treffen? Wird das Ende des Maya-Kalenders auch das Ende der Welt bedeuten? Wird in Afghanistan jemals Friede herrschen? Wir merken nicht, dass diese sogenannte Zukunft aus nichts anderem als aus unserer Vergangenheit produziert wird, dass wir alle in einer riesigen Fabrik namens Gegenwart Tag und Nacht damit beschäftigt sind, aus bereits Geschehenem eine Zukunftsperspektive für uns zusammenzuschustern. Der Friede in Afghanistan, der Maya-Kalender, der Meteorit, alle Meteoriten, die unsere Erde treffen sollen, sie fliegen nicht aus dem Weltall, sondern aus unserer Vergangenheit auf uns zu, sie durchbrechen nicht die dicken Schichten der Atmosphäre, sondern die dünnen Schichten der Zeit. Die Vergangenheit ist der Haken, an dem wir alle hängen. Man muss ihm mit Härte und Mut
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