Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Sie schauen zuerst aus dem Fenster, bevor sie aus dem Haus gehen. Um nicht aufzufallen, ziehen sie am liebsten Sachen an, die sich in Form und Farbe nicht sonderlich von dem unterscheiden, was die anderen tragen. Auf diese Weise entziehen sie sich jeglicher Verantwortung für ihr Erscheinungsbild. Man nennt das soziale Mimikry, glaube ich.
Auf dem Land hat es aber wenig Sinn, der Mode wegen aus dem Fenster zu schauen. Erstens läuft nicht jeden Tag jemand an deinem Haus vorbei. Zweitens haben die Menschen hier nicht nassen Asphalt mit Hundekot dekoriert vor ihren Fenstern, sondern die vielfältige Schönheit der Natur, ein Spiel von Farben, Formen und Gerüchen. Dementsprechend bunt ziehen sie sich an. Manchmal übertreiben sie dabei etwas und gehen wie geschmückte Weihnachtsbäume zum Tanz. Für die Disko ist das nur gut, weil die Tanzfläche dann von allein glänzt und man nicht so viel mit dem Licht zu spielen braucht.
Durch diese Tanzabende kamen die Brandenburger und wir einander näher und lernten uns etwas besser kennen. Als Dank für die Veranstaltung in Glücklitz bekam ich nun das letzte selbst verlegte Exemplar der eigentlich vergriffenen ersten Auflage von Glücklitz: Die Chronik eines Dorfes, dem Buch, von dem Mathias mir erzählt hatte. Den ganzen nächsten Tag blätterte ich darin und staunte, wie viel an diesem Ort los gewesen war. Sie gewährte mir einen tiefen Einblick in die Vergangenheit unseres Gartens. Bisher waren nämlich all meine Versuche, die Geschichte von Glücklitz zu erforschen, gescheitert. Die freiwilligen Feuerwehrmänner hatten einen auf toten Käfer gemacht und so getan, als wüssten sie gar nicht, was früher war. Die Gräber auf dem Friedhof behielten ihre Geschichten ebenfalls für sich. Und die wenigen Hinzugezogenen, Datschabesitzer wie wir, interessieren sich einfach gar nicht dafür.
Mit dem gesammelten Eintrittsgeld der Russendisko bekam die von drei einheimischen Enthusiasten veröffentlichte Chronik nun sogar wie versprochen eine zweite, um neues Material ergänzte Auflage. Vieles aus der Gegenwart wurde mir erst durch das Studium dieser Geschichte begreiflich: Die ungebremste Lust, zu russischer Musik zu tanzen, könnte möglicherweise genetisch begründet sein. Bereits 2000 Jahre vor Christus waren hier germanische und slawische Stämme zusammengekommen und hatten vielleicht schon damals gemeinsam getanzt. Sicher hatten diese Stämme auch miteinander gekämpft und aufeinander geschimpft, doch das eine schloss das andere nicht aus. Auf jeden Fall hatte es hier vor langer Zeit schon Slawen gegeben, sie tauchten hier eigentlich viel früher auf als in Russland.
Die drei versteinerten Skelette aus der Bronzezeit, die laut Dorfchronik älteste Ausgrabung in Glücklitz, hätte ich fast für Ur- DJ s gehalten. Aber in Wirklichkeit waren es wahrscheinlich Angler gewesen. Nicht auszudenken, wie lange sie am Ufer des Glücklitzer Sees gesessen hatten, der damals sicher größer, tiefer und voll von gefährlichen Reptilien gewesen war. Sie hatten das Beste gegeben, dessen ein Mensch fähig war: Glaube, Liebe und Hoffnung. Den Glauben an den richtigen Köder, die Liebe zum Fisch und die Hoffnung, dass bald einer anbiss. In Erwartung eines Riesenzanders saßen sie am Seeufer, bis sie eines Tages versteinerten.
Laut Chronik hatten immer jeweils drei Zeitgenossen in jedem Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen. Das brachte mich ins Grübeln, denn ich hatte bisher auch nur drei Einheimische richtig kennengelernt. In jedem der vorübergegangenen Jahrhunderte war die Glücklitzer Geschichte stets zu dritt gelenkt worden. Während der Reformationszeit verlief die Abkürzung des Jakobsweges, des berühmten Pilgerpfades, direkt durch das Dorf. Es war aber eher eine Sackgasse: Wer diese Abkürzung nahm, kam nie in Santiago de Compostela an, sondern kreiste für alle Zeiten im brandenburgischen Wald. Drei Pilger, die vom richtigen Jakobsweg abgekommen waren, hatten – wahrscheinlich aus Verzweiflung – die Glücklitzer Kirche gebaut, die sehr hoch und schmal in den Himmel ragte. Auch hier hatten die Pilger nach einer Abkürzung gesucht und offenbar versucht, die göttliche Aufmerksamkeit mit einer scharfen Turmspitze zu erzwingen.
1690 waren drei Schweizer Familien hierhergekommen. Die Schweiz hatte damals noch kein Bankgeheimnis, keine direkte Demokratie und galt als eines der ärmsten Länder Europas. Doch ihren freiheitsliebenden und unabhängigen Geist besaßen die Schweizer schon
Weitere Kostenlose Bücher