Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Werte, die uns aufgedrängt werden, um schwache Geister zu verwirren. Niemand hier braucht Freiheit«, erzählten mir die Kameramänner. »Wir waren heute den ganzen Tag unterwegs, um die Protestdemos zu filmen, die Freiheit für Pussy Riot fordern. Was meinst du, wer geht zu diesen Demos? Nur Schwule, Minderjährige und Rechtsanwälte!«
»Na klar«, nickte ich, »das sind zur Zeit die revolutionärsten Teile der Gesellschaft. Homosexuelle demonstrieren für die Freiheit, weil sie in Russland tatsächlich unterdrückt werden, Minderjährige sind immer für die Freiheit, weil sie nichts dürfen, und Rechtsanwälte verteilen wahrscheinlich bei diesen Demos ihre Visitenkarten: ›Bitte schön, Sie wissen, welche Nummer Sie wählen müssen, wenn Sie verhaftet oder angeklagt werden‹. Das ist ihr Brot, sie ernähren sich von Freiheitskämpfern. Das alles heißt aber noch lange nicht, dass der Rest der Bevölkerung gern ein Sklavendasein führen möchte. Es gibt sehr viele Gründe, warum die Menschen nicht zu Demos gehen, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Zum Beispiel, weil sie kleine oder kranke Kinder zu Hause haben oder selbst erkältet sind oder verschlafen haben oder noch dringend fürs Wochenende einkaufen müssen. Sie sind aber trotzdem für die Freiheit, selbst wenn sie das nicht an jeder Ecke rausschreien«, verteidigte ich die Bevölkerung.
»Nein«, sagten meine neuen Bekannten. »Sie gehen nicht zu Demos, weil sie wissen, dass man durch Demos nichts verändern kann. Dieses Land kann nur so funktionieren, wie es heute ist: mit einem Tyrannen statt einer Regierung, mit einer korrupten Bürokratie, die darauf ausgerichtet ist, die Schwachen zu treten und die Starken zu lecken, und mit einem nachdenklichen Volk, das alles sieht, aber schweigt. Es war hier nie anders, und es wird nie anders werden. Die Macht steht über jedem Gesetz, der KGB fliegt wie ein Schutzengel um sie herum, und das Volk sitzt auf dem Boden und schweigt, wie es schon immer geschwiegen hat. Niemand weiß, worüber genau dieses Volk schweigt und ob es dabei vielleicht über etwas nachdenkt, was noch wichtiger ist als Freiheit und Gerechtigkeit. Laut sagt es ja nie etwas. Nur manchmal steht das Volk auf wie ein Mann und metzelt alles um sich herum nieder. Dann setzt es sich wieder hin und überlässt das Regieren den anderen.«
Auf dem Rückflug von St. Petersburg nach Berlin überlegte ich, was der Grund für diesen Fatalismus der Russen sein könnte, für diesen alles zersetzenden Unglauben, nichts im Leben seines Landes, in seinem eigenen Leben verändern zu können, für ihren Unwillen aufzustehen. Entsprang all das vielleicht den sowjetischen Erziehungsmethoden? Kam es daher, dass Babys in der Sowjetunion eng gewickelt wurden und deswegen als Erwachsene Minderwertigkeitskomplexe bekamen und seit dem vorigen Jahrhundert Putin wählten, obwohl sie ihn nicht mochten? Viele Zeitungen schrieben im Ernst, es gebe im ganzen Land keinen anderen Politiker, der so gut regieren könne. Dabei leben in Russland 140 Millionen Menschen. Ich habe keine Antwort auf meine Fragen gefunden. Die Erziehungsmethoden waren lange Zeit überall auf der Welt ziemlich totalitär, und auch in europäischen Demokratien wurden Kinder gequält. Erst seit Kurzem neigen die Erziehungswissenschaftler dazu, alles entspannter anzugehen.
Ich hatte keine Zeit, den russischen Erziehungsgedanken zu Ende zu denken. Die Geschichte dieses Landes ist lang, der Flug von St. Petersburg aber sehr kurz. Um 17.20 Uhr war ich losgeflogen, und um 17.30 Uhr landete ich schon in Berlin. Zwei Stunden waren unterwegs wegen der Zeitverschiebung verschwunden. Inzwischen sind es sogar drei. Russland entfernt sich zeitlich immer weiter vom europäischen Raum und alles nur, weil der kleine russische Zwischenpräsident die Winterzeit abgeschafft hat. Es ist eine alte russische Sitte, dass jeder Präsident irgendetwas abschafft. Doch bei dem Zwischenpräsidenten war lange Zeit unklar, womit er sich beschäftigen durfte, ohne dafür gleich etwas auf die Finger zu bekommen. Er suchte nach einer harmlosen Beschäftigung ohne Widerstand und ohne Lobbyisten. So kam er auf die Winterzeit. Mit der skurrilen Begründung, Russland sei sowieso ein Winterland, wozu brauche man da noch extra eine Winterzeit, schaffte er sie ab.
Diese kurzsichtige Entscheidung hatte viele unangenehme Folgen. Im ganzen Land ist es seitdem dunkler geworden. Der Winter dauert länger, und der schwarze matschige Schnee
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