Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Pawlowsk verbrachten, wurden im dortigen Garten religiöse Feste mit nicht ganz nachvollziehbarem Hintergrund gefeiert: das Apfelrettungsfest, der Tag des heiligen Sängers Nikodim und das Herumtragen des heiligen Feuers zur Genesung des russischen Staates. Ich ließ mich auf komplizierte theologische Diskussionen mit den Garten-Christen ein, um herauszufinden, vor wem Jesus die Äpfel gerettet hatte, wer der heilige Nikodim war, und was das Herumtragen des heiligen Feuers mit der Genesung der Staatsmacht zu tun hatte. Meine »Informanten« schworen, alle diese Feste würden in den heiligen Büchern stehen, im Neuesten Testament russischer Prägung, sie wüssten jedoch nicht genau, auf welcher Seite.
Unser Fahrer, ein sehr gläubiger Mensch, der mehr Ikonen als Musikkassetten in seinem Wagen hatte und sich beim Fahren niemals anschnallte mit der Begründung, wer das Bild des heiligen Seraphim im Wagen habe, brauche keinen Sicherheitsgurt, suchte für mich vergeblich während der Fahrt in seiner Bibel die Passage über die Äpfel. Beinahe verursachte er dabei einen Unfall, der nur durch das rasche Eingreifen des heiligen Seraphim verhindert werden konnte. Enttäuscht, dass er die Bibelstelle nicht gefunden hatte, meinte er, auch in den heiligen Büchern würden eben manchmal wichtige Seiten fehlen, vielleicht die wichtigsten überhaupt.
Als An-alles-Mögliche-Gläubiger gab ich mich dem allgemeinen Religionswahn in der Parkanlage hin, schnallte mich nicht an, trank den gesegneten Honig mit Alkohol, nahm am Herumtragen des heiligen Feuers teil und betete sogar. Allerdings nicht für die Stärkung der Staatsmacht, sondern für die Freilassung von Pussy Riot. Ich hatte mit meinem Gartenfilm in Pawlowsk die traurige Zeit erwischt, als die russische Justiz gerade ihr Urteil über die naiven Mädchen gesprochen hatte, die gedacht hatten, mit einem Protestlied gegen die Staatsmacht in einer Kirche würden sie eine gesellschaftliche Diskussion über die unheilige Verschmelzung von Kirche und Staat anzetteln. Stattdessen bekamen sie für dreißig Sekunden Gesang zwei Jahre Knast.
Die Diskussion blieb aus, die russischen Medien verweigerten sich diesem Thema. Abgesehen von ein paar oppositionellen Radiosendern hatten sie kein Interesse daran. Die ausländischen Medien interessierten sich dagegen sehr dafür. Beinahe im Minutentakt wurde ich aus Deutschland von allerlei Zeitschriften angerufen und um einen Kommentar gebeten. Das deutsche Staatsfernsehen hatte extra aus Mainz über Moskau nach St. Petersburg eine Fernsehbrücke geschlagen, um ein Statement von mir über das unsägliche Gerichtsurteil zu filmen. Dazu engagierten sie ein Kamerateam vom St. Petersburger Fernsehen. Drei ältere Männer sollten mich am Abend vom Hotel abholen, zu der berühmtesten Kirche der Stadt fahren und dort am Kanal, mit den Kirchenglocken in Hintergrund, meinen Kommentar aufnehmen. Ich war müde nach dem langen Drehtag im Garten, und auch die Männer vom Fernsehen waren nicht mehr ganz frisch. Sie hatten den ganzen Tag davor Demonstrationen gefilmt, die Freiheit für Pussy Riot forderten – im Auftrag ausländischer Medien, versteht sich.
Es dämmerte bereits, wir mussten uns beeilen. Am Kanal angekommen stellte ich mich vor die Kamera und sagte, ohne lange zu überlegen, was für eine Schweinerei das sei, für ein halbes Lied auf Jahre in den Knast gesteckt zu werden.
»Das wird für den Staat nicht ohne Folgen bleiben. Aber jetzt wissen wir zumindest, wovor dieses Regime Angst hat: vor singenden Mädels. Mehr davon!«, beendete ich meine Ansprache und blickte pathetisch in die Kamera.
»Alles drauf«, bestätigten mir die Kollegen.
Die Männer machten die Kamera aus und packten das Licht ins Auto. Dann kamen sie zu mir, holten ihre Zigaretten heraus und fragten:
»Okay, Wladimir, jetzt erzähl uns mal, was du wirklich von der Sache hältst.«
Ich kam ins Stocken. »Wie was? Was kann man denn sonst davon halten? Jede freie Meinungsäußerung, überhaupt jede Art Freiheit wird hier unterdrückt. Seht ihr nicht, wie die Menschen hier über die Straßen schlurfen und sich alle fünfzig Meter umschauen, als ob sie jemand verfolgt?«, regte ich mich auf.
»Ja, das sehen wir, wir sind ja nicht blöd. Aber warum denkst du, die Freiheit würde diesen Menschen helfen? Was für eine Freiheit überhaupt? Und wovon? Die Menschen hier brauchen keine Freiheit, sie brauchen günstige Kredite und bezahlbare Wohnungen, alles andere sind westliche
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