Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
drei Effekte sieht man deutlich, wenn man die tatsächlich ermittelten Ergebnisse der Studie betrachtet. Die Reaktionszeiten werden bei größeren Zahlen länger, die Vergleiche »8 10« und »9 11« sind (bei Deutschen und Chinesen) auffallend schneller, und die Chinesen sind insgesamt schneller als die Deutschen. Deutsche Versuchspersonen werden zudem beim Zahlenvergleich ab der Sechs langsamer, d.h., sobald eine über fünf hinausgehende Zahl verarbeitet werden muss. Chinesische Versuchspersonen zeigen eine entsprechende Verlangsamung hingegen erst beim Vergleich »10 12«, wenn die andere Hand ins Spiel kommt.
7.9 Mittlere Reaktionszeiten auf die Zahlenvergleichsaufgaben bei deutschen und chinesischen Versuchspersonen sowie Anpassung einer einfachen Kurve zur Verdeutlichung des Größeneffekts (gestrichelte Kurven) . Deutsche weichen ab der Sechs signifikant von dieser Kurve ab; sie werden langsamer (schwarze Fläche) , Chinesen hingegen erst nach der Zehn (dunkelgraue Fläche) .
Die Ergebnisse zeigen damit eine Art Schatten des kindlichen Fingerzählens auf das Rechnen im Erwachsenenalter. Die Versuchspersonen habe die Vergleichsaufgabe natürlich nicht mit ihren Fingern gelöst, aber die Reaktionszeiten zeigen an, dass die Gehirnbildung im Kindergarten keineswegs folgenlos für die Funktion im weiteren Leben ist. Seit etwa hundert Jahren weiß man, dass die Finger und die Mathematik ganz eng in unserem Kopf miteinander verknüpft sind: Sie haben bei jeder mathematischen Operation sozusagen immer ihre Finger mit im Spiel. [183] Denn die abstrakten Zahlen, Größen usw. mussten ja irgendwann mit den Fingern erfasst werden und gelangten so ins Gehirn. Und genau deswegen hat die hohe geistige Leistung der Mathematik ganz viel mit unserem »verräumlichten« Körper und ganz besonders viel mit unseren Fingern zu tun.
Anders ausgedrückt: Wie gut wir mit unseren Fingern umgehen können und vor allem während unserer Kindheit Gelegenheit hatten, damit umzugehen, ist bedeutsam für die Fähigkeit, mit Zahlen zu hantieren. Studien belegen, dass diejenigen Kinder im Kindergarten, die ihre Finger besser handhaben können, später besser in Mathematik sind, dass also das Training der Finger die mathematischen Fähigkeiten verbessert. [184] Wenn Sie also wirklich wollen, dass aus möglichst vielen Kindern, die sich derzeit im Kindergartenalter befinden, später Fachkräfte für Mathematik und Informationstechnik werden, was sollten Sie dann im Kindergarten favorisieren: Laptops oder Fingerspiele? Die Antwort der Wissenschaft ist klar: Fingerspiele!
Die Welt be-greifen
Um den Einfluss des Hantierens mit Objekten auf das Gehirn zu untersuchen, muss man das Erlernen von Objekten forschend begleiten. Nun kennt aber schon jeder einen Hammer oder eine Schere, und man kann gesunden jungen Probanden in dieser Hinsicht nichts mehr beibringen. Daher kam mein Kollege Markus Kiefer auf die Idee, sich 64 neue, nicht existierende Objekte (Nobjects) auszudenken, sie dreidimensional mittels Computergrafik zu zeichnen und ihnen jeweils einen Namen zu geben. Dadurch wurde es möglich, die Rolle des hantierenden Umgangs mit Dingen beim Lernen von neuen Objekten und Objektbegriffen zu untersuchen.
7.10 Beispiele für zu erlernende Nobjects [185]
Bei Einzelheiten war schon lange klar, dass gleichzeitiges körperliches Handeln beim Lernen hilft. »Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein« lernt sich besser, wenn man dabei die Fäuste wiederholt übereinandersetzt. »Die Kurbel drehen« wird besser gelernt, wenn man mit der rechten Hand eine entsprechende (pantomimische) Kurbeldrehbewegung macht. [186] Kurz: Handlungen sind Teil einzelner konkreter Erinnerungen – man spricht auch vom episodischen Gedächtnis.
Um herauszufinden, ob auch unser begriffliches Wissen (was ein Hammer ist, dass man in Häusern wohnen kann, dass eine Tasse ein Küchenutensil und jedes Küchenutensil ein unbelebter Gegenstand ist etc.) mit Handlungen aufs engste verknüpft ist, mussten 28 Ulmer Studenten begriffliches Wissen zu 64 Nobjects erwerben: Bild, Name, Kategorienzugehörigkeit, Umrissform und Detailmerkmal. Damit sie das aufwendige Lernprogramm (sechzehn Sitzungen von jeweils etwa neunzig Minuten Dauer) überhaupt mitmachten, mussten wir jedem zweihundert Euro bezahlen.
Um den Einfluss der Art des Lernens ( be-greifen oder nur hindeuten ) auf das spätere Wissen zu untersuchen, wurden die Studenten in zwei Gruppen
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