Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
passt hier gleich dreifach! – führen also, ganz allgemein gesprochen, zur Strukturierung des Gehirns. Wichtig ist hierbei, dass nach Ablauf von bestimmten sensiblen Perioden, Lernphasen oder Entwicklungsfenstern (es gibt hier viele Begriffe, die sehr Ähnliches meinen) in der Kindheit in vielerlei Hinsicht gar nicht mehr gelernt werden kann. Wir wissen, dass einmal entstandene Strukturen zu ihrer eigenen Verfestigung neigen, wie auch entstandene Trampelpfade benutzt werden, selbst wenn es kürzere Wege gibt. [177]
Die Bedeutung des Be-greifens der Welt beim Lernen wurde schon frühzeitig in der Pädagogik erkannt. Lernen solle mit Herz, Hirn und Hand vonstattengehen, meinte schon Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Bereits vor ihm, im Jahr 1747, wurde die erste Real schule gegründet, in der sich das Lernen an realen Dingen in der realen Welt vollziehen sollte. Warum ist die Realität so wichtig? Und warum das Be-greifen mit den Händen?
Wir Menschen sind nicht nur Augentiere (siehe Kapitel 5), sondern auch Bewegungstiere: Etwa ein Drittel unserer Gehirnrinde dient dem Sehen und ein zweites Drittel dem Planen und Ausführen von Bewegungen (für alles andere ist das restliche Drittel zuständig). Da die Verbindungen zwischen den Modulen des Gehirns in beide Richtungen gehen, können nicht nur einfache Sinnesareale komplexere Sinnesareale »belehren«, sondern auch einfache motorische Areale komplexere motorische Areale. Bei Kindern spielt für das Lernen insofern nicht nur die Sinnlichkeit ihrer Erfahrungen von Welt eine große Rolle, sondern auch der Umgang mit der Welt.
Betrachten wir hierzu ein einfaches Beispiel: Fingerspiele und Zahlen. In aller Welt bringen Erwachsene Kindern Fingerspiele bei, auch wenn sie verschiedentlich als altmodischer Kleinkram eingeschätzt werden – nach dem Motto: »Nun ja, das macht man schon seit Jahrhunderten. Es ist praktisch, wenn es regnet, denn die Kinder haben ihre Finger schließlich immer dabei, und kosten tun sie auch nichts. Wenn man also die Zeit irgendwie totschlagen muss, die Kinder beschäftigt werden müssen und sonst nichts und niemand da ist, dann werden eben Fingerspiele gemacht … Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen – alles alte Zöpfe! Es wird Zeit, dass das 21. Jahrhundert in die Kindergärten Einzug hält und dieser Finger-Unsinn durch etwas Gescheites wie z.B. Laptop-Kindergärten ersetzt wird.«
Wir hatten bereits diskutiert, dass aus der Gehirnentwicklung unmittelbar folgt, dass frühe einfache Lernprozesse sich entscheidend auf spätere höhere geistige Leistungen auswirken: Wer auf der unteren Ebene keine klaren, scharfen und deutlichen Spuren angelegt hat, der kann auf höheren Ebenen nur schwer das abstrakte Denken lernen, denn der Input der höheren Ebenen kommt von den einfacheren Ebenen.
Es zeigt sich also, dass im Kindesalter erworbene, vom Lernen abhängige Unterschiede zwischen Menschen existieren, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben und die Leistungsfähigkeit der Erwachsenen bestimmen. So wissen wir beispielsweise längst, dass Sprachlaute (Phoneme), die man als Kind nicht gehört hat, später im Erwachsenenalter gar nicht unterschieden werden können. Was auf den unteren Ebenen keine Spuren hinterlassen konnte, weil die entsprechenden Muster nicht verarbeitet wurden, wird auf höheren Ebenen gar nicht mehr abgebildet.
Für das Sehen gilt Entsprechendes: Das »Training« mit den Gesichtern aus unserer Umgebung führt dazu, dass für uns alle Japaner ziemlich gleich aussehen. Und für die Japaner sehen wir Mitteleuropäer alle recht ähnlich aus, denn Lernprozesse in unserer Kindheit haben dafür gesorgt, dass wir ein großes Spezialistentum für die Gesichter, die wir oft gesehen haben, entwickelt haben. Ganz andere Gesichter speichern wir daher nur als »ganz anders« ab und gerade nicht in der Genauigkeit, die wir sonst für die Gesichter unserer Mitmenschen aufwenden.
Vor diesem Hintergrund der Entwicklungsneurobiologie sind neuere Studien zum Embodiment, also zur Verkörperung von Denkprozessen, von großer Bedeutung. Letztlich geht es darum, dass wir unseren Körper von Geburt an gleichsam mit uns herumtragen und uns mit ihm die Welt erobern. Entsprechend wichtig sind körperliche Erfahrungen wie beispielsweise das Empfinden von »warm« oder »kalt« (was später auch auf unsere Emotionen übertragen wird), »groß« oder »klein« bzw. »oben« oder »unten« (was ebenfalls später auf ganz
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