Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
Muttermilch aufgenommen und verstanden hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Mythos. Die für das Lernen notwendige Tiefe geistiger Arbeit wurde durch digitale Oberflächlichkeit ersetzt. Elektronische Lehrbücher stellen in diesem Zusammenhang ein weiteres instruktives Beispiel dafür dar, dass wir die Bildung der nächsten Generation definitiv nicht dem Markt überlassen dürfen.
10. Multitasking: gestörte Aufmerksamkeit
Gemäß einer amerikanischen Studie unterbricht der moderne Mensch seine Arbeit im Durchschnitt alle elf Minuten. Das Telefon klingelt, während in der Tasche noch das Handy klemmt; Kurznachrichten und E-Mails werden durch Klingelzeichen angekündigt und – ganz egal, woran man gerade arbeitet – natürlich sofort beantwortet. Unser Leben im »digitalen Zeitalter« zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass wir beständig alles Mögliche gleichzeitig tun: Wir recherchieren am Computer, hören Musik, schreiben Kurznachrichten auf dem Mobiltelefon und lesen eigentlich gerade einen Artikel in der Zeitung. Der Fernseher läuft im Hintergrund, und dann klingelt das Festnetztelefon.
Macht Multitasking schlau?
Wie wirkt sich dieser gleichzeitige Umgang mit mehreren Medien auf uns aus? Werden wir durch multimediale Umgebungen intelligenter, schlauer? In den letzten zehn Jahren ist die Flexibilität unseres Gehirns eindeutig nachgewiesen worden: Es ist biologische Hardware, die sich ständig an die jeweilige Software – sprich: unsere Lebenserfahrung – anpasst. Es ist also nicht egal, was wir erleben, denn jede geistige Aktivität hinterlässt Spuren im Gehirn, und diese Spuren beeinflussen dessen zukünftige Funktion.
Nicht nur Einzelheiten sind in unserem Gehirn abhängig von der Art, wie sie gelernt werden, gespeichert, sondern auch allgemeine Bedeutungen, d.h. kategoriales Wissen und sogar die Art, wie wir Aufgaben lösen (siehe Kapitel 7). So hat jeder Chinese neun Schuljahre damit zugebracht, Tausende von Schriftzeichen auswendig zu lernen, zu erkennen und rasch zu unterscheiden. Er erkennt bekannte Zahlen daher schneller als wir, weil er das Erkennen von Symbolen mit Tausenden statt mit einigen Dutzend Symbolen über neun Jahre und nicht wie wir ein bis zwei Jahre geübt hat. Und er tut sich mit Zahlen von sechs bis zehn leichter, weil er diese in derselben Gehirnhälfte verarbeitet wie die Zahlen eins bis fünf.
Multitasking steht in engem Zusammenhang mit dem, was man heute in der Psychologie und kognitiven Neurowissenschaft als kognitive Kontrolle bezeichnet. [274] Schon in der frühen Kindheit lernen wir, unsere Gedanken zu kontrollieren, das heißt zum Beispiel, Irrelevantes auszublenden und uns auf eine konkrete Aufgabe zu konzentrieren (hierzu mehr im folgenden Kapitel). Es handelt sich also um eine im menschlichen Gehirn angelegte und zugleich erlernte Fähigkeit, über die das Individuum mehr oder weniger verfügt. Anschaulich vergleichen lässt sich das mit unserer Sprachfähigkeit. Auch die Sprachzentren sind genetisch angelegt, sie müssen aber Sprach-Input erhalten, um ihre Funktion aufzunehmen. Dies gelingt mehr oder weniger gut, was zu Unterschieden in der Beherrschung der Sprache in Wort und Schrift zwischen den Menschen führt.
Wenn also kognitive Kontrolle erlernt ist und wenn sich die Art, wie wir unser Denken kontrollieren, durch das Eintauchen in eine multimediale Welt verändert, dann sollte Multitasking einen Einfluss auf die Fähigkeit haben, unsere Gedanken zu kontrollieren. Dieser Einfluss könnte positiv sein: Man wächst mit der Aufgabe, und die Kontrolle ist umso schwieriger, je mehr es zu kontrollieren gibt. Er könnte aber auch negativ sein, denn wenn wir beständig vieles gleichzeitig tun, dann könnte dies zu einer oberflächlicheren Verarbeitung des vielfältigen und ständig wechselnden Inputs führen. Denkbar ist also, dass wir durch langfristiges intensives Multitasking unsere Aufmerksamkeit trainieren; oder dass wir – im Gegenteil – uns dadurch eine Aufmerksamkeitsstörung antrainieren. Beide Effekte könnten sich auch gegenseitig aufheben, so dass Multitasking keine Auswirkung hätte. Was trifft nun zu?
Kontrolle über das eigene Denken
Um den Einfluss des Multitaskings auf die geistige Leistungsfähigkeit zu untersuchen, führten Wissenschaftler von der Stanford University eine Reihe von kognitiven Tests mit zwei extremen Gruppen durch. Mittels eines eigens hierfür entwickelten Fragebogens wurden in einer Gruppe von 262
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