Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
Stöhnen:
»›Es ist mein Knöchel, du Bastard …‹
›Ach, zu dumm aber auch.‹
›Ich kann nicht aufstehen.‹
›Ich hab kein Mitleid.‹
›Du könntest mir wenigstens helfen, mich aufzurichten!‹
›Ich glaub, du spinnst wohl! Dir helfen? Ich bin dann mal weg.‹
– sprach’s, verließ den Raum und knallte die Tür zu.« [218]
Mit dem Schlagen der Tür startete der Versuchsleiter seine Stoppuhr, um zu messen, wie lange die Person im angrenzenden Raum (die an ihrem Fragebogen saß) brauchte, um der einzelnen im Raum verbliebenen Person zu Hilfe zu eilen, die noch immer vernehmbar vor Schmerzen stöhnte.
8.4 Wie viel Zeit (in Sekunden) brauchen Probanden, um jemandem in Not zu helfen, wenn sie gerade zwanzig Minuten lang ein gewaltfreies Computerspiel (weiße Säule) oder ein Gewalt-Computerspiel (schwarze Säule) gespielt hatten? [219]
Es zeigte sich hierbei nicht nur, dass die Probanden, die gerade (bis drei Minuten vorher) das Gewalt-Computerspiel gespielt hatten, etwa fünfmal länger brauchten als die Probanden, die gerade ein gewaltfreies Spiel gespielt hatten. Vielmehr bemerkten manche Spieler von Gewaltspielen den Kampf überhaupt nicht. Und wenn sie ihn bemerkten, dann empfanden sie ihn vergleichsweise als weniger schwerwiegend. Kurzum: Wer gerade digitale Gewaltszenen erlebt hatte, der war gegenüber der real wahrgenommenen Gewalt abgestumpft.
In einer Feldstudie, also in der realen Welt außerhalb des Labors, überprüften die Autoren diese Ergebnisse noch einmal in einem anderen Zusammenhang: In einem Kinoausgang fielen einer jungen Frau mit Gipsbein die Krücken aus der Hand; vergeblich versuchte sie, auf dem Boden liegend, wieder ihre Krücken zu ergreifen. Das Ganze war von einer Schauspielerin gespielt und wurde unbemerkt von einem Wissenschaftler beobachtet. Gemessen wurde die Zeit, die Passanten (nach dem Kinobesuch) brauchten, um der offensichtlich hilflosen Frau wieder zu ihren Krücken zu verhelfen.
Bei insgesamt 162 Passanten zeigte sich in diesem Feldversuch, dass die Zeitspanne bis zur erfolgten Hilfeleistung vom zuvor gesehenen Film abhing: Nach ausgiebigen Gewaltszenen ( The Ruins, 2008) dauerte es deutlich länger als nach einem gewaltfreien Film ( Nim’s Island, 2008). Man könnte nun meinen, dass gewaltbereite Menschen eben eher einen Gewaltfilm ansehen und daher der Effekt nicht auf den Film, sondern auf den Charakter der jeweiligen Person zurückzuführen sein könnte. Um dies zu untersuchen, wurde das Ganze auch jeweils am Kino eingang und vor dem Film durchgeführt. Hier zeigte sich kein Unterschied im Verhalten der (späteren) Zuschauer. Mit anderen Worten: Der Gewaltfilm hatte den Effekt, dass die Zuschauer danach gegenüber hilflosen Mitmenschen weniger hilfsbereit waren.
Man könnte nun fragen, warum die Kinobesucher deutlich schneller waren als die Versuchspersonen im Labor, aber die generell andere Situation (man läuft vorbei und sieht die Not) der Feldstudie im Vergleich zum Laborexperiment (man sitzt und macht eine langweilige Arbeit und vernimmt etwas im Nebenraum) lässt in Hinblick auf die Zeit keinen Vergleich zu.
Fazit
Die Freiheit des Einzelnen (und damit auch die seines guten Geschmacks) hört bekanntermaßen dort auf, wo die Freiheit anderer beeinträchtigt oder andere gar geschädigt werden. Daher muss man die Frage der Mutter sehr ernst nehmen, deren Tochter völlig sinnlos bei der Ausübung ihres Berufs erschossen wurde. Als der Amokläufer hereinkam und um sich schoss, diskutierte man in der Klasse übrigens gerade mein Buch Vorsicht Bildschirm, also die Auswirkungen medialer Gewalt in der wirklichen Welt.
Gewiss schaffen die Hersteller von Gewaltvideospielen Arbeitsplätze und bringen Steuereinnahmen. Aber wollen wir das wirklich? Und sollten wir wirklich dafür Kulturpreise vergeben? Manche mögen ja auch Kinderpornographie oder harte Drogen, aber dennoch sagt die soziale Gemeinschaft hier: »Stopp, das geht zu weit!« Gewalt, für die man Punkte bekommt, je grauenhafter man sie ausübt, halten wir dagegen für förderungswürdig. Und die parteiübergreifende Kommission des Bundestags gibt die Empfehlung, Kinder an diese Kulturform schon möglichst früh heranzuführen.
Dem muss man entgegenhalten: Es ist nicht egal, was Kinder und Jugendliche den ganze Tag tun, denn dies hinterlässt Spuren in ihren Gehirnen. Bei Computerspielen sind dies zunehmende Gewaltbereitschaft, Abstumpfung gegenüber realer Gewalt, soziale
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