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Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)

Titel: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Spitzer
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ist ein flexibles und planvolles Nein, das im Frontalhirn aktiv aufrechterhalten werden muss, sonst wird es von der Automatik gleichsam überrannt. Wenn das Frontalhirn gerade nicht gut funktioniert, weil wir beispielsweise müde oder angetrunken sind (oder schlimmstenfalls beides), dann wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Selbstkontrolle scheitern.
    Wie jeder weiß, unterscheiden sich die Menschen im Hinblick darauf, wie gut sie sich im Griff haben, erheblich. Woran liegt das? Ist unsere Selbstkontrolle, unsere Selbstbeherrschung (früher hätte man gesagt: unsere Willenskraft) erblich angelegt? Oder haben wir sie erworben, vielleicht sogar im Laufe der Kindheit und Jugend gelernt? Und: Kann man denn überhaupt das Wollen erlernen?

Wollen lernen ist wie Sprechen lernen
    Zum Erwerb der Muttersprache bedarf es Hunderttausender »Spracherfahrungen« – jeder quatscht mit einem Baby. Diese Erfahrungen – das Hören von gesprochener Sprache und das gleichzeitige Sehen eines Gesichts, vielleicht noch körperliche Berührungen und der Geruch der Mutter oder des Vaters – treffen auf sich entwickelnde Sprachzentren und hinterlassen dort ihre Spuren. Den Rest erledigt das Gehirn: Es ist kein Kassettenrekorder und auch keine Festplatte, sonst könnten wir immer nur das sagen, was wir schon einmal genau so gehört haben. Vielmehr saugt es aus dem vielfältigen Geplapper vieler Menschen die zugrundeliegenden allgemeinen Wörter sowie die allgemeinen Regeln für deren Verwendung (Grammatik, Semantik, Pragmatik) heraus. Unsere Muttersprache ist ein wichtiger Teil der Bildung. Ich spreche in diesem Buch oft von Gehirnbildung, und das Beispiel der Sprachzentren macht sehr deutlich, wie dies gemeint ist: Die biologisch im Gehirn angelegten Sprachzentren bilden sich erst durch Lernprozesse zu dem, was sie beim erwachsenen Menschen sind. Ohne dieses Lernen könnten wir nicht sprechen und hätten als erwachsene Menschen keine Sprachzentren mehr.
    Seine Muttersprache hat jeder gelernt, ohne Pauken und Büffeln, ohne Unterricht in Grammatik und überhaupt ohne jede Unterweisung. Es verhält sich genauso wie beim Laufen – das hat auch jeder einfach so gelernt, von Fall zu Fall, denn es machte Spaß, sich hochzuziehen und zu schauen, ob man eine Weile oben bleibt oder gleich wieder auf den Po plumpst. Nach Tausenden solcher »Plumpser«, die nicht alle einzeln in Erinnerung bleiben, kann man aufrecht stehen und gehen. Ebenso macht es Spaß, sich mit jemandem zu unterhalten. Niemand muss motiviert werden, das Laufen oder das Sprechen zu lernen, und ich kenne kein Kleinkind, das nach einigen Wochen erfolgloser Versuche und blauer Flecken am Po zu sich gesagt hätte: »Also mit dem Laufen, das schmeiße ich jetzt.« Auch die Unterhaltungen sind viel zu interessant, als dass jemand im Alter von drei oder vier Jahren auf die Idee käme, das sein zu lassen.
    Es sollte klar sein, wie man Selbstdisziplin ganz gewiss nicht lernt. »Disziplin!«, »Nun reiß dich doch mal zusammen!«, »Beherrsch dich!« sind als Aufforderung mit dem Ziel des Lernens von Selbstkontrolle etwa so sinnvoll wie »Nun sag doch mal was« für die Sprachentwicklung förderlich ist. Was man wirklich lernt – Laufen, Sprechen, Wollen –, muss man selbst tun! Es geht also, wie eingangs schon beschrieben, bei der Entwicklung von Selbstkontrolle um Situationen, in denen sie spielerisch geübt wird, ohne dabei zugleich Thema zu sein. Gemeinsames alltägliches Handeln, sportliche Aktivitäten in der Gemeinschaft, musische Aktivitäten in der Gemeinschaft, Theaterspielen oder das Durchführen anderer Spiele hat letztlich die Entwicklung von Selbstkontrolle zum Ziel.
    Mit unserem Willen verhält es sich also nicht anders als mit dem Laufen oder dem Sprechen. Auch für die Entfaltung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle bedarf es entsprechender vielfältiger Erfahrungen. Aber was sind das für Erfahrungen, die unseren Willen trainieren? Um an dieser Stelle die Dinge scharf zu sehen, hilft ein Blick in die Menschheitsgeschichte – genauer: ein Blick auf den Alltag der Menschen, als sie noch unter Steinzeitbedingungen lebten. Um als Jäger und Sammler zu überleben, musste man permanent kontrolliert und planvoll vorgehen. Wer im Winter das Feuer nicht hütete und nicht rechtzeitig neues brennbares Material besorgte, erfror. Wer sich bei der Suche nach Nahrungsmitteln leicht durch die vielfältigsten anderen Dinge, die die Natur auch noch zu bieten hatte, ablenken

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