Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
langsam sein, und dann wird sie einen Schock bekommen.
An den Schockapparat ist noch ein weiterer Käfig im Nachbarraum angeschlossen. Auch in diesem Käfig sitzt eine Ratte. Immer wenn die Ratte Nr. 1 einen Schock bekommt (also zu langsam war in ihrer Reaktion auf das Lämpchen), erhält die Ratte Nr. 2 auch einen Schock. Ansonsten hat diese Ratte nichts zu tun. Sie hat keine Lampe und keinen Hebel, kann also an ihrem Schicksal nichts ändern. Umgekehrt muss sie aber auch nichts leisten, braucht also nicht auf der Lauer zu liegen, auf das Licht zu achten und dann rasch die Taste zu drücken. Sie liegt vielmehr buchstäblich auf der faulen Haut.
Welche von beiden Ratten wird nun von Stress geplagt? Man möchte meinen, die Ratte Nr. 1. Sie muss auf der Hut sein, aufmerksam und angespannt; sie muss rasch reagieren und ist damit in gewisser Weise »immer unter Strom«, damit sie nicht gelegentlich einen Stromstoß bekommt. Anders die Ratte Nr. 2, die nichts tut und genau dieselben Stromstöße abbekommt wie die andere Ratte. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Man kann dies herausfinden, indem man die Stresssymptome untersucht: Bluthochdruck, Magengeschwüre, Wachstumsstörungen, Impotenz, Libidoverlust, Infektionskrankheiten, Krebsgeschwülste und nicht zuletzt abgestorbene Gehirnzellen gehören dazu. All dies lässt sich bei Ratte Nr. 2 feststellen, die offensichtlich unter chronischem Stress gelitten hatte, nicht jedoch bei Ratte Nr. 1. Sie hatte keinen Stress.
Das Experiment zeigt ganz deutlich: Nicht die unangenehmen Erfahrungen bewirken Stress, sondern das Gefühl, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein. Wenn wir wissen, dass wir keine Einwirkungsmöglichkeit und keine Kontrolle haben, löst das bei uns (wie bei der Ratte) chronischen Stress aus. Gestresst sind wir immer dann, wenn uns die Kontrolle abhandenkommt. Wenn man weiß, dass der Chef montags immer schlecht gelaunt ist, wird man nicht sehr darunter leiden. Wenn der Chef jedoch ab und zu wie aus heiterem Himmel seine schlechte Laune an einem auslässt, dann löst das Stress aus. Wer öfter lächelt, lebt länger. [286] Demgegenüber vermindert eine launische Ehefrau oder Partnerin nicht nur das Lebensglück eines Mannes nachweislich, sondern auch seine Lebenszeit, denn Glücksgefühle wirken in der Regel lebensverlängernd. [287] Letztlich liegt das am Stress, den der Mann hat, weil er nie weiß, was seine Frau als Nächstes tut. (Der Effekt gilt natürlich auch umgekehrt, ist jedoch nicht so stark).
Selbstkontrolle chronisch abgeben
Aufmerksamkeitsstörungen sind das Gegenteil von Selbstkontrolle: Wer dauernd durch irgendetwas abgelenkt ist und herumzappelt, der hat seine Motorik nicht im Griff und ist ihr ausgeliefert. Passivität vor Bildschirmen und das regelrechte Einüben von Aufmerksamkeitsstörungen bei Computerspielen lösen nachweislich Aufmerksamkeitsstörungen aus. Der amerikanische Kinderarzt Dimitri Christakis und seine Mitarbeiter konnten als Erste zeigen, dass Fernsehkonsum in der früheren Kindheit zu vermehrtem Auftreten von Aufmerksamkeitsstörungen (d.h. zu Selbstkontrollverlust) im Schulalter führt. [288] Warum das so ist, hat eine im Herbst 2011 in der renommierten Fachzeitschrift für Kinderheilkunde Pediatrics publizierte Studie [289] sehr eindrucksvoll gezeigt: Insgesamt sechzig Kinder im Alter von vier Jahren wurden nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe bekam einen modernen, schnell geschnittenen fantastischen Cartoon zu sehen (Wechsel der Szene durchschnittlich alle elf Sekunden), die zweite Gruppe einen realistischen Lehrfilm über das Leben eines Jungen (Szenenwechsel alle 34 Sekunden), und die dritte Gruppe sollte neun Minuten zeichnen. Danach wurden bei allen Gruppen vier einfache Tests zu Funktionen des Frontalhirns durchgeführt:
(1) Einen aus drei Scheiben bestehenden Turm auf bestimmte Weise planvoll umbauen (Turm-von-Hanoi-Aufgabe), eine Funktion des Arbeitsgedächtnisses.
(2) Der Kopf-Schulter-Knie-Zeh-Test (»wenn ich Kopf sage, müsst ihr die Zehen berühren, und wenn ich Zeh sage, dann den Kopf«), bei dem reflexartiges Handeln unterdrückt und gemäß der vorgegebenen Regel zu handeln ist.
(3) Eine Version des Marshmallow-Tests zur Erfassung der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub.
(4) Zahlen rückwärts nachsprechen (»Ich nenne einige Zahlen, und du sagst sie rückwärts nach. Wenn ich also 3–4 sage, musst du 4–3 antworten.«), ebenfalls eine Funktion
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