Diktator
Sie setzte sich lässig hin, schlug die Beine übereinander und schnippte mit den Fingern, und ein Kellner brachte ihr ein Glas und schenkte ihr ein.
»Es ist so seltsam, dich hier zu sehen – es ist so anders«, sagte Ernst.
»Tja, nichts ist mehr so wie früher, stimmt’s? Selbst wenn man stillsteht, ändert sich alles um einen herum. Das ist der Krieg, nehme ich an. Hast du Feuer?«
Sie brachte ein schlankes Zigarettenetui zum Vorschein.
Er suchte nach einem Streichholz. Merkwürdigerweise musste er an den Vorfall im Wagen denken, als Heinz Alfie eine Zigarette angeboten hatte. Die Kinder waren für die Nacht bei einer Tante in Hastings untergebracht; morgen würde er sie wieder mit nach Hause nehmen. Es fiel ihm schwer, jetzt an diese seine sonderbare Zweitfamilie zu denken; es war eine andere Kategorie der Realität, dachte er, getrennt von dem Universum, zu dem die Frau vor ihm gehörte. »Ich habe dich noch nie so gut angezogen gesehen …«
»Ich dachte eigentlich, du würdest mich lieber ausgezogen sehen.«
Die Unverfrorenheit dieser Bemerkung verblüffte ihn. »Als Lehrerin scheint man im Reich ja ein gutes Gehalt zu beziehen.«
»Schon möglich. Keine Ahnung«, sagte sie.
»Du hast deinen Beruf aufgegeben? Was machst du denn jetzt?«
»Ach, so dies und das. Ich übersetze ein bisschen; daran besteht momentan großer Bedarf. Jetzt ist einfach alles so anders, Ernst. Ich meine, inmitten all dieser Geschehnisse Lehrerin zu sein – wie soll man einem Kind den Krieg erklären?«
»Du hast doch immer gesagt, Unterrichten sei für dich die höchste Berufung.«
»Na ja, wir alle sagen Dinge, die nicht für die Ewigkeit gedacht sind, oder?« In ihrem Ton lag eine leichte Schärfe. »Wohnst du hier im Hotel?«
»O nein. Das ist viel zu vornehm für mich. Ich habe ein Zimmer für die Nacht, in einer Pension. Und du?«
»Ich bin in einer Art Wohnheim. Hör mal, wenn wir irgendwohin gehen wollen, dann wahrscheinlich am besten ins Wohnheim. Die Leute sind diskret – du weißt schon.«
Erneut kam ihm das seltsam unverfroren vor. Er schaute sich in der Bar um und hoffte, dass niemand zuhörte. Der Mann am Nebentisch nippte an seinem Drink. Sein Gesicht war hinter der Zeitung verborgen.
Sie griff nach Ernsts Hand. »Ach, sei nicht so schüchtern. Ich habe mich so nach dir gesehnt. Ich habe all deine Briefe bekommen. Und sie aufgehoben.«
»Wirklich?«
»Was für erstaunliche Sachen du erlebt hast. Du solltest eines Tages mal ein Buch darüber schreiben.«
»Na, es ist ja noch nicht vorbei. Außerdem – diese Briefe waren nur für dich bestimmt.«
»Ich weiß. Ich habe mir vorgestellt, wie du an mich denkst, selbst unter solchen Umständen. Ich war gerührt.« Claudine schaute ihm in die Augen; sie war so schön wie eh und je.
Dennoch hatte sie etwas Unaufrichtiges an sich. Er sah es in diesem Moment. Er zog seine Hand zurück.
»Was ist denn los, Ernst?«
»Das will ich dir sagen.« Der elegante Zivilist am Nebentisch faltete seine Zeitung zusammen. »Er hat mein Rasierwasser an dir gerochen, das ist los.« Es war Heinz Kieser.
»Heinz, du Mistkerl, was machst du denn hier?«
»Dir nachspionieren. Was denkst du denn? Ich wollte sehen, ob die schöne Claudine wirklich existiert. Es gibt keine Geheimnisse in der Kaserne, weißt du! Und hier ist sie nun, und … tja.«
»Hör mal, lass uns einfach in Ruhe, ja?«
»Und weißt du was«, fuhr Heinz fort, »wie sich rausstellt, kenne ich sie schon. Bei mir hat sie allerdings nicht Claudine geheißen, stimmt’s, Schätzchen?«
»Fahr zur Hölle«, sagte sie.
»Ich verstehe nicht«, sagte Ernst. »Wovon redest du, Heinz?«
»Sie ist en carte .« Er gebrauchte den französischen Ausdruck. »Warum zeigst du sie ihm nicht, Marie ? Zeig ihm deine Karte. Na los!«
Claudine sog heftig an ihrer Zigarette und funkelte ihn wütend an.
Heinz grinste und stand auf. »Ich glaube, meine Arbeit hier ist erledigt. Nimm’s nicht so schwer, mein Junge. Haben wir alle schon durchgemacht.« Er klopfte Ernst auf die Schulter, aber Ernst stieß ihn weg.
Als er fort war, starrte Claudine auf die Spitze ihrer Zigarette. »Das ist mir sehr unangenehm.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären. Du schuldest mir nichts.«
Sie blickte zu ihm auf, und Zorn loderte in ihren hübschen, leeren Augen. »Aber vielleicht schuldest du mir was. Halt den Mund und schenk mir noch ein Glas Wein ein.«
Er gehorchte.
»Es ist passiert, nachdem du zu den Lastkähnen
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