Diktator
stand. »Es ist der Armistice Day, der Tag des Waffenstillstands 1918, an dem wir alle unser Werkzeug niederlegen, um unserer Väter zu gedenken, die im Krieg zur Beendigung aller Kriege gefallen sind. Ein schöner, sauberer Militärgedenktag, so richtig was für die knöchernen kleinen Herzen der Nazis …«
»Stopf dir ’nen Strumpf rein, Farjeon«, knurrte der rangälteste Brite in seinem breiten Liverpooler Dialekt. »Und außerdem schätze ich mal, dass du und die anderen rassisch überlegenen Typen den Tag nicht mit uns verbringen werden.« Er machte eine Kopfbewegung zum Kommandanten und seinen Adjutanten, zu denen sich zwei SS-Offiziere gesellt hatten, die, wie bei den Deutschen üblich, Listen konsultierten.
Die Männer bedachten die SS-Leute mit anzüglichen Pfiffen und riefen in diversen Sprachen Obszönitäten, und die in der Nähe Stehenden stießen Gary und Willis an. Der Standardwitz im Lager lautete, dass alle SS-Männer in Wirklichkeit stockschwul seien und es bei den Rassenselektionen in Wahrheit darum gegangen sei, Ausschau nach hübschen Jungs zu halten. »Keine Angst, Wooler, ich hab gehört, Himmlers Schniedel ist noch kleiner als der von Hitler. Du wirst gar nichts merken.«
Willis reagierte mit seinem üblichen Schwuchtelgetue. Gary stand einfach nur da.
Wie sich herausstellte, waren an diesem Tag jedoch nicht alle Stalag-Arier gefragt. Die SS-Leute kamen zur britischen Gruppe herüber und sprachen kurz mit Adams. Er drehte sich um und winkte Gary herbei. »Nur Sie, Wooler.«
Gary trat vor. Einer der SS-Offiziere kam zu ihm.
»O Gott«, stöhnte jemand. »Es ist die SS-Schnepfe. Das ist einfach nicht fair .«
Unter einer schwarzen Uniformmütze lächelte Gary ein verblüffend schönes Gesicht an. »Sie sind also
Corporal Wooler. Ich habe schon von Ihnen gehört – und von Ihrer berüchtigten Mutter, der ich sogar einmal begegnet bin. Wir setzen große Hoffnungen in Sie, Wooler. Sie sind eine wichtige Person. Der Amerikaner, der für die Briten kämpft. Der Neutrale, der sicheres Geleit aus dem Stalag ablehnt. Sie haben sich selbst unter den Prominenten einen Namen gemacht!«
Sie sprach ein reines Oberschichtsenglisch. »Mein Gott. Was sind Sie?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich bin SS-Unterscharführerin Fiveash. Aber Sie können mich Julia nennen. Wir haben einen großartigen Tag vor uns, Corporal. Kommen Sie mit.« Und sie drehte sich um und ging davon.
Gary sah Adams an. Dieser nickte.
Die Männer hinter ihm fanden ihren Mut wieder und fingen an, zu johlen und zu pfeifen. »Du Glückspilz«, rief Willis Farjeon. »Du Glückspilz, Wooler!«
Er wurde zum Tor geführt und dort zügig durchsucht, zuerst von einem SS-Mann, dann von Stalag-Wärtern. Die Wärter kannten die Tricks der Gefangenen und waren erheblich gründlicher, aber ihm blieb die Demütigung einer Leibesvisitation mit Untersuchung der Körperöffnungen erspart.
Draußen vor dem Stalag-Tor wartete eine kleine Gruppe von Befehlsfahrzeugen. In einem saß Julia Fiveash hinter einem Wehrmachtsfahrer. Die Wagentür stand offen, und sie klopfte auf den Sitz neben ihr. Gary setzte sich verwirrt zu ihr.
Die Wagen fuhren los und formierten sich zu einem
kleinen Konvoi. Es ging nach Osten, wie er am Winkel der Sonne sah, Richtung Küste. Gary erwog reflexhaft die Möglichkeiten einer Flucht. Dies war kein Transporter mit stählernem Käfig, sondern ein offener Wagen, und er könnte einfach zur Seite hinausspringen. Aber er zweifelte nicht daran, dass Waffen auf ihn gerichtet waren.
»Es ist nicht weit – nur ein paar Kilometer«, sagte Fiveash.
»Wohin?«
»Sie werden schon sehen.« Fiveash musterte ihn. »Und wie fühlen Sie sich? Was geht Ihnen gerade durch den Kopf? Kommen Sie, Corporal, ich hoffe, Sie halten nicht an dieser Namens-, Rang- und Dienstnummern-Leier fest. Ich möchte wirklich, dass wir uns kennenlernen.«
Wie er sich fühlte? Er strich mit einer Fingerspitze über eine Naht des ledernen Sitzbezugs. Der Wagen glänzte innen und außen, und die Frau neben ihm war adrett und todschick in ihrer pechschwarzen Uniform. Es war ein heller, frischer englischer Herbsttag, und der dahinrollende Wagen wirbelte eine Fahne nach Holzrauch duftender Blätter auf. »Ich habe seit einem Jahr in keinem Auto mehr gesessen, mal abgesehen von Gefangenentransportern mit Stahlwänden. Ich fühle mich schmutzig. Zum Teufel, ich bin schmutzig.«
»Nun, Sie brauchen nicht schmutzig zu sein. Nicht mehr.«
Bald erreichten
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