Diktator
einen Satz nach vorn.
Aber Fred stand ihm im Weg und packte ihn an den Armen. »Lassen Sie sie gehen«, sagte er. »Sie hat es getan, um uns zu retten. Um Gottes willen …«
Durch die offene Tür sah Ernst, wie sie zu einem Lastwagen gezerrt wurde, auf dessen Ladefläche bereits ein Dutzend Personen standen, teilnahmslos und mit gesenktem Kopf. Er versuchte sich zu befreien. »Nehmen Sie Ihre Hände von mir!«
»Bitte. Ich flehe Sie an.« Der Mann weinte, sah Ernst. Fred schlang seine kräftigen Bauernarme um ihn, als wolle er ihn umarmen und nicht festhalten. »Lassen Sie sie gehen! O Gott, lassen Sie sie gehen.«
XXIV
Es dauerte eine Stunde, bis Fred ihn schließlich aus dem Haus ließ.
Sie saßen alle wie gelähmt in der Küche. Irma schnitt Alfie ein Stück Schweinebraten ab. Keiner der anderen brachte einen Bissen hinunter.
Als die Stunde um war, zog Ernst seinen Mantel und seine Stiefel an und rannte zur Tür hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel war voller Wolken, aber die Luft war kalt und klar.
Er machte sich auf die Suche nach dem Fahrrad, mit dem Alfie jeden Tag zur Schule fuhr, das einzige verfügbare Fortbewegungsmittel. Das Fahrrad war ein bisschen zu klein für ihn, aber Alfie hatte lange Beine, und es gelang Ernst, damit zurechtzukommen. Ein schwacher Dynamo speiste flackernde Lampen vorne und hinten.
Die Fahrradfahrt war sehr anstrengend, weil der Matsch und der Schlamm die Räder festhielten. Es war stockfinster, abgesehen vom Licht seiner Lampen, aber er konnte den Spuren des Lastwagens mühelos folgen. Als er an weiteren Bauernhöfen vorbeikam, sah er, wo die Spuren der Männer und der Hunde von der Hauptstraße abbogen.
Er fuhr weiter. Es dauerte nicht lange, dann hörte er die Schüsse, raue Salven, die durch die stille Luft ratterten.
Die Hinrichtungsstätte befand sich in der Nähe eines Ortes namens Netherfield, kaum mehr als eine Straßenkreuzung ein paar Kilometer nördlich von Battle. Das einzige Licht kam von den Scheinwerfern der Lastwagen; die Motoren der Fahrzeuge tuckerten vor sich hin. Er sah, wie Menschen in einer Reihe Aufstellung nehmen mussten, immer zehn bis zwölf Personen zugleich. Es schienen mehr SS-Männer als Gefangene anwesend zu sein. Die Männer standen herum; in der kalten Luft bildeten sich Rauchhelme um ihre Köpfe. Einer bückte sich, um seinen Hund zu tätscheln. Ernst hörte Gelächter.
Ein SS-Schütze schwenkte eine Taschenlampe und stoppte ihn hundert Meter vor der Hinrichtungsstätte. »Halt, Herr Obergefreiter. Haben Sie einen Ausweis?«
Ernst stieg vom Fahrrad und wühlte in seiner Jackentasche nach seinen Papieren.
Der Schütze inspizierte sie im Lichtschein der Taschenlampe. »Was haben Sie hier zu suchen, Herr Obergefreiter?«
»Hier ist jemand, den ich kenne«, sagte Ernst. »Kein Brite – eine Französin. Ein Irrtum.«
Eine weitere Salve.
»An Ihrer Stelle würde ich nicht dorthingehen«, sagte der Schütze. »Die Arbeit ist beinahe erledigt. Wenn Ihre Freundin überhaupt dabei war, tja … Die
Einsatzgruppen mögen es gar nicht, wenn sie unterbrochen werden.«
Ernst trat einen Schritt vor. »Aber …«
Der Schütze legte ihm eine behandschuhte Hand auf die Brust. »Bitte.«
Eine weitere Gruppe nahm Aufstellung. Sie standen am Rand einer Grube. Ernst fragte sich, wie man sie ausgehoben hatte, denn der Boden war gefroren. Vielleicht hatte man sie vorher schon vorbereitet; die SS war äußerst effizient. Ernst sah die Silhouetten der Männer mit den Pistolen, die hinter ihren Opfern standen. Als der Schießbefehl kam, bildete sich ein Sprühnebel aus Blut und Gehirnmasse; man konnte ihn deutlich sehen, leuchtend rot im Scheinwerferlicht. Manche der Opfer fielen glatt in die Grube, andere zitterten und bebten, bevor sie hinabstürzten, und einige, die noch nicht ganz tot waren, schrien laut. Männer traten vor, und Pistolen knallten, als die Hinrichtungsaktion beendet wurde.
Der Schützte sah teilnahmslos zu. »Möchten Sie eine Zigarette, Herr Obergefreiter?«
»Nein.«
»Hm. Haben Sie dann vielleicht eine übrig?«
Ernst holte ein Päckchen aus seiner Manteltasche.
Der Mann nahm die Zigarette dankbar entgegen. Er zündete sie in der hohlen Hand an, und der Lichtschein erhellte sein Gesicht. Er war sehr jung, sah Ernst. »Es ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht glauben«, sagte der Schütze langsam, »einen Menschen zu töten.«
»Es ist ein Irrtum«, sagte Ernst. »Sie hätte nicht dort sein
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