Diktator
Herrje, ist der hübsch.«
Claudine rang sich ein Lächeln ab. »Er ist zerrissen«, sagte sie auf Englisch.
»Nichts, was man mit ein bisschen Improvisation sowie Nadel und Faden nicht wieder hinbekommen könnte.« Irma reichte Viv den Mantel und Claudines Hut. »Hier, Liebes, häng das auf.«
Viv nahm die Kleidungsstücke mit mürrischer Miene entgegen und rauschte hinaus.
»Jetzt kommen Sie, setzen Sie sich. Fred, stell den Braten wieder in den Ofen.«
Alfie starrte das Fleisch an. »Essen wir nicht?«
»Dafür ist später noch Zeit. Deck das Fleisch mit ein bisschen Papier ab, Fred, damit es nicht austrocknet.« Irma eilte geschäftig davon, um den Kessel auf den Herd zu stellen.
Ernst setzte sich zu Claudine. Er hatte sie seit jenem Oktobertag in Hastings, als er vor ihr geflohen war, nicht mehr getroffen. Als er sie jetzt in diesem Zustand sah, schämte er sich. Und es war sehr, sehr seltsam, jetzt hier neben ihr zu sitzen, dem Mädchen, in das er sich im sonnigen Boulogne verliebt hatte, in einem anderen Jahr und einer anderen Welt. Aber so war der Krieg nun einmal, der endlose, überwältigende, inhumane Krieg, der alles durcheinanderbrachte.
»Du bist also weggelaufen, ja?«, fragte er.
»Ich? Weggelaufen? Mit diesen Schuhen?« Das war die alte Claudine.
Er lächelte sie an. »Willst du eine Zigarette?«
»Bitte.«
Irma kam herüber, inspizierte Claudines Gesicht
und strich ihr die Haare zurück. Claudine zuckte zusammen. »Da haben Sie aber ein hübsches Veilchen, mein Schatz.«
»Bin gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Die Verdunkelung. Sie wissen schon.«
Fred starrte sie einfach nur ungläubig an. Aber Irma sagte: »Tja, ist uns allen schon passiert. Ich könnte Fred oder Alfie losschicken, damit sie den Arzt holen …«
»Nein«, sagte Claudine schnell. »Ist nur ein blauer Fleck.«
»Na schön, ich hole Ihnen Jod und einen Schwamm, damit wir Sie ein bisschen saubermachen können. Bleiben Sie einfach sitzen, Schätzchen. Fred, du machst Tee. Nimm ein paar frische Blätter aus der Dose; die letzten stammen ja schon von anno Tobak.«
Fred war noch dabei, den Braten in den Ofen zu stellen. »Zum Teufel«, sagte er. Aber er gehorchte und nahm einen frischen Becher aus dem Regal.
Viv kam wieder herein. Sie setzte sich so nah wie möglich zu Ernst und funkelte Claudine böse an. »Wie war noch mal Ihr Name?«
»Rimmer. Claudine Rimmer.«
»Claudine . Woher kennen Sie Ernst? Womit verdienen Sie sich Ihren Lebensunterhalt, Claudine ?«
»Ich arbeite als Übersetzerin bei der Besatzungsbehörde.«
»Ach ja? Ich wette, ich weiß, was Sie in Wirklichkeit tun.«
»Viv!« Irma kam mit einer Flasche Jodlösung und
einem Lappen zurück; sie goss heißes Wasser aus dem Kessel in eine Schüssel. »So redet man nicht mit jemandem.«
»Komm schon, Mum, schau sie dir an! Sie ist Französin!« Sie zog die Nase kraus. »Und sie hat in Parfüm gebadet.«
»Es reicht. In dein Zimmer, Vivien. Sofort.«
Viv stand auf. »Aber gern. Ich kann den Gestank hier drin nicht ertragen.« Sie marschierte hinaus, die Lippen zu einem Schmollmund verzogen. Binnen einer Minute war sie gekommen und gegangen; es war, als wäre ein Sturm durch den Raum gefegt.
Fred stellte Claudine einen Becher Tee hin. Sie legte die Hände um den Becher, als wäre sie dankbar für die Wärme, trank jedoch nicht.
Irma fing an, den Bluterguss mit dem Jod und dem Wasser zu bearbeiten. »Sie dürfen sich nichts aus Viv machen. Sie ist einfach … na ja, sie ist fünfzehn.«
»Ich war auch mal fünfzehn.« Claudine sog an ihrer Zigarette und betrachtete Ernst. »Aber sie mag dich, glaube ich. Vielleicht ist sie eifersüchtig. Natürlich hatte sie recht mit dem, was sie über mich gesagt hat.« Das brachte sie alle zum Schweigen – Ernst war verlegen, Fred und Irma waren schockiert, und Alfie saß mit großen Augen da. »Es ist am besten, ehrlich zu sein, oder nicht? Sich nicht hinter Lügen zu verstecken.«
»Verdammt«, sagte Fred. »Verdammt, verdammt. Wo soll das alles hinführen, hm? Das würde ich gern wissen.«
Irma fuhr resolut mit ihrer Ersten Hilfe fort. »Geben Sie nichts auf ihn. In diesem Krieg hat nicht jeder die Wahl zwischen lauter erfreulichen Dingen, nicht wahr?«
»Das stimmt.« Claudine zuckte zusammen, als Irma das Jod auftupfte.
»Und was immer Sie … Sie wissen schon … Sie haben es nicht verdient, das man Ihnen das angetan hat, oder?«
»Wer war das?«, fragte Ernst.
»Ein Engländer«, sagte sie.
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