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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Feldgeschütz auf den Strand zu ziehen. Woanders wurden unglückliche Pferde durchs seichte Wasser geführt. Trotz des plötzlichen Ruhmes der Panzer hing die Beweglichkeit des deutschen Heeres im Grunde von Pferden ab; auf vier Mann kam ein Pferd, so dass allein in den ersten drei Tagen vierundzwanzigtausend dieser Tiere über den Kanal befördert werden würden.
    Eine Bootsladung Soldaten kippte um, und die Männer planschten in der Brandung, lachend wie Kinder.
    Claudine lachte ebenfalls. »Also weißt du, ihr Deutschen seid wirklich miserabel auf dem Meer! Den ganzen Sommer über habe ich euch so herumwursteln sehen. Selbst die Gezeiten scheinen eure Befehlshaber vor ein Rätsel zu stellen!«
    Er zuckte die Achseln. »Wir sind kein Volk von Seebären, wie die Briten. Aber wir haben schon einmal eine erfolgreiche Invasion von See aus durchgeführt, als wir Norwegen erobert haben. Warum sollte uns das nicht wieder gelingen?« Er machte eine Handbewegung zum Kanal. »Man muss schon ein echter
Pechvogel sein, wenn man in diesem erbärmlichen Graben umkommt.«
    Sie schnitt ein Gesicht, und er sah Altersfalten um ihre Augen und ihren Mund, eingefangen von der Sonne. Mit ihren achtundzwanzig war sie fünf Jahre älter als er. »Aber dieser ›erbärmliche Graben‹ hat immerhin Napoleon zurückgehalten. Also, viel Glück. Und wenn ihr Deutschen schon so wenig über das Meer wisst, was, in aller Welt, werdet ihr dann erst von England halten, wenn ihr dorthin kommt?«
    Er schnaubte. »Wir wissen alles über England, was wir wissen müssen. Es ist ein Land von Plutokraten in schönen Häusern, die die Verteidigung ihres Landes den chaotischen alten Männern der Home Guard überlassen, während die arbeitenden Menschen sich ängstlich vor unseren Fallschirmspringern ducken.« Er wühlte in seiner Jacke und brachte eine Broschüre zum Vorschein. »Dieses Bildheft hat jeder bekommen.«
    Sie blätterte das Büchlein durch. Es zeigte hübsche kleine Häfen, Landhäuser, romantische Ruinen. »Wie nett«, sagte sie trocken. »In England gibt es also keine Fabriken? Keine großen Straßen und Städte? Na, ihr werdet es wohl herausfinden.« Sie sah ihn an. »Aber wozu das alles, Ernst? Ich rede nicht von Deutschland, sondern von dir . Wozu tust du das? Du bist ein kluger Mann, so viel weiß ich.«
    Er hob die Schultern. »Ich wollte eigentlich Lehrer werden, so wie du, oder Wissenschaftler. Ich habe Mathematik studiert, aber als ich eingezogen wurde,
war ich noch nicht so weit, dass meine Fähigkeiten für die Kriegsanstrengungen nützlich gewesen wären.«
    »Aber warum kämpfst du?«
    »Für meinen Vater«, sagte Ernst schlicht. »Mein Bruder würde dir vielleicht etwas anderes erzählen, aber er ist ja auch zur SS gegangen. Mein Vater hat im Weltkrieg 14/18 gekämpft. Er hat mit angesehen, wie das Land nach dem ungerechten Versailler Vertrag vor die Hunde gegangen ist. Und er hat an einer alten Verletzung herumlaboriert, deretwegen er nicht mehr arbeiten konnte. Wir sind verarmt. Er war ein stolzer Mann, mein Vater. Er ist verbittert gestorben. Ich war froh, als der Krieg kam. Ich kämpfe für mein Land, für meinen Vater.«
    »Aber die Soldaten in England haben auch Väter.« Claudine entdeckte in dem Büchlein ein Bild von einem Ort namens Hastings. Es stammte offensichtlich von einer Postkarte und zeigte einen Kiesstrand voller Familien. »Ich frage mich, ob jemals wieder Kinder an diesen Stränden spielen werden.«
    »Ich wüsste nicht, warum nicht«, sagte Ernst steif. »Vorausgesetzt, sie geraten beim Spielen nicht mit den Zielen der Okkupation in Konflikt.«
    Sie lachte erneut. »Ach, Ernst. Vielleicht werdet ihr Deutschen am Ende noch von Gespött besiegt statt von Gewehren.«
    Ein neues Geräusch vom Meer lenkte sie ab, ein kehliges Röhren. Ein Boot anderer Art schoss parallel zum Ufer übers Wasser; pechschwarz und schlank, erzeugte es ein Kielwasser, in dem die kleineren Boote
auf und ab tanzten. Die Männer an den Stränden jubelten und applaudierten.
    Claudine fluchte leise. »Und was ist das ?«
    Ernst wurde bang ums Herz. »Ein Schnellboot. Angetrieben von einem Flugzeugmotor. Es soll über den Kanal flitzen und auf die Strände Englands hüpfen. Mehr Lärm als Leistung …«
    »Es hält an«, sagte Claudine. »Schau. Jemand winkt uns!« Sie winkte zurück.
    »Und das«, sagte Ernst, und seine Stimmung verdüsterte sich noch mehr, »ist mein älterer Bruder. Der mich nicht mal einen einzigen Tag in Ruhe lassen

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