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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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solange die SS noch die geringste Autorität besaß.
    Schließlich erspähte er Julia in der Nähe des Rathauses. Dort reihten SS-Leute gerade eine Schlange schmutzig aussehender Männer, wahrscheinlich aus dem Land hierhergebrachte Widerstandskämpfer, grob an einer Wand auf. Die Wand war bereits zernarbt und mit Blut bespritzt. Ein nervös wirkender SS-Offizier ging an der Reihe entlang und bot Zigaretten und Augenbinden an. Eine Gruppe Zivilisten wartete beklommen in der Nähe, beaufsichtigt von bewaffneten Angehörigen der Waffen-SS; zweifellos hatte man sie mit der Aufgabe betraut, die Leichen wegzuschaffen, wenn die Arbeit erledigt war.
    Julia stand in ihrer Uniform da und beobachtete dieses Schauspiel mit verschränkten Armen.
    George eilte zu ihr. »Julia, um Gottes willen …«
    »George.« Sie drehte sich sonderbar gelassen zu ihm um. »Ich habe dich schon erwartet. Ob du’s glaubst oder nicht, ich freue mich, dich zu sehen.«
    »Wie meinst du das? – Hör zu, hier ist alles in Auflösung begriffen. Die Briten werden in einer Stunde hier sein. Was soll das? Kannst du es nicht beenden?«
    »Ich könnte es nicht, selbst wenn ich’s wollte. Diese Tode bedeuten nichts.«
    Da sah er die trostlose Kälte in ihrem Innern. In gewissem Sinn war nichts von alldem für sie real; die Männer, die erschossen wurden, hätten Schaufensterpuppen
sein können. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er es fertiggebracht hatte, drei Jahre lang das Bett mit ihr zu teilen. »Das Spiel ist aus«, sagte er. »Du kommst hier nicht mehr heraus. Es ist schon zu spät.«
    »Das glaube ich nicht.« Er spürte, wie sich etwas in seinen Bauch drückte. Es war die Mündung ihrer silbernen Pistole.
    »Das ist nicht dein Ernst …«
    »Ich habe einen Wagen bereitstehen«, sagte sie. »Du wirst sehen, es klappt. Unsere Uniformen bringen uns an jeder Sperre vorbei, auf die wir stoßen. Und wenn wir ins Gebiet der Alliierten wechseln, ziehe ich meine Uniform aus – schließlich bin ich Engländerin. Wir können uns irgendeine Geschichte ausdenken.«
    »Ich habe hier meine Aufgabe zu erfüllen. Ich bin Cop, Herrgott noch mal.«
    »Tja, du wirst ein toter Cop sein, wenn du nicht tust, was ich sage, und wem soll das was nützen? Ich werde dich töten, wenn du dich weigerst.« Und er wusste, dass sie die Wahrheit sagte. »Jetzt komm mit …«
    Unter den Todgeweihten entstand Unruhe. Einer der Zivilisten, die darauf warteten, die Leichen wegzuschaffen, ein stämmiger älterer Mann, lief nach vorn. Er hinkte ein wenig und drängte sich an der Reihe der SS-Männer vorbei. George hörte ihn rufen: »Jack! Jack Miller! Ich bin’s!«
    »Dad? Nein … geh zurück …« In der Stimme des jüngeren Mannes lag Entsetzen, selbst während er seinen Vater umarmte.
    Ein junger SS-Mann kam mit gezückter Pistole zu
ihnen und versuchte, den älteren Mann wegzuzerren. Aber dieser wich nicht von der Stelle, sondern hielt sich an seinem Sohn fest. »Wenn ihr ihn erschießt, müsst ihr mich auch erschießen, ihr miesen Dreckskerle.«
    Der SS-Mann zog noch ein wenig länger an ihm, und der Sohn versuchte, seinen Vater wegzuschieben. Aber der alte Mann war stur. Schließlich bellte ein Offizier einen Befehl, und der Soldat stieß den alten Mann neben seinem Sohn an die Wand. Vater und Sohn klammerten sich aneinander; sie weinten jetzt beide. Dann fielen die Schüsse.

XIII
    Die deutschen Gefangenen wurden auf der Küstenstraße von St. Leonards nach Hastings gebracht. Es war jetzt Abend, und die Sonne warf lange Schatten durch die vom staubigen Rauch der Bombenangriffe geschwängerte Luft. Und wie der Tag schien auch die Schlacht dem Ende entgegenzugehen. Das Geschützfeuer zu Lande hatte aufgehört, obwohl man noch immer das tiefe, gutturale Rumpeln der Schiffskanonen vernahm, das wie ferner Donner vom Meer heranrollte.
    Ernst war diese Straße sehr oft entlanggegangen, aber noch nie so wie jetzt, als einer von rund hundert Gefangenen, denen Helme und Waffen abgenommen worden waren – einigen auch Stiefel und Gürtel, die sich die Tommies als Souvenir unter den Nagel gerissen hatten –, die Hände auf dem Kopf. Niemand sprach ein Wort, und es war schwer zu sagen, was die Männer dachten, während sie dahinstapften. Ernst sehnte sich nach Schlaf. Abgesehen davon verspürte er jedoch nur Erleichterung, dass er am Leben war und den Rest dieses elenden Krieges vermutlich in einem Kriegsgefangenenlager erleben würde, statt an eine noch brutalere Front

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