Diktator
einer Sinfonie von Schüssen: das Donnern schwerer Artillerie, das zornige Husten von Mörsern, das Knallen von Handfeuerwaffen. War es wieder 1940, hatte er endlich jeden Halt in der Zeit verloren und war in die Vergangenheit zurückgetrieben?
Aber er spürte das Bett unter sich, den Pyjama aus dem Gefangenenlager, der seine Nacktheit bedeckte. Er war noch hier, im Labor. Immer noch eingebettet in den Webstuhl, eine jüdische Fliege in einem Nazi-Spinnennetz.
Er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund, und sein Bewusstsein war irgendwie geschärft und spröde – er sah alles wie in Falschfarben, hatte ein hohes Klirren in den Ohren und einen Geruch von Antiseptika in der Nase. Er kannte diese Anzeichen. Julia hatte ihn wieder einschlafen lassen. Sie hatte ihn mit Opiaten und Stimulanzien betäubt und wieder aufgeweckt, hatte ihn mit einer souveränen Sachkenntnis kontrolliert, die sich im Lauf der Monate entwickelt hatte und bei Ben dennoch jedes Mal eine Art Sodbrennen auslöste.
Und wie jedes Mal, wenn er aufwachte, verspürte er eine wachsende Furcht davor, was Julia Fiveash mit seiner Hilfe bewirkt haben mochte, während er schlief.
Ein lautes Krachen – eine Granate, die in der Nähe einschlug – ließ das Bett erzittern. Die Schüsse waren also real. Der Krieg war endlich zu diesem Ort des Schreckens gekommen.
Er schlug die Augen auf.
Das grelle Licht der elektrischen Lampen über ihm brannte sich in seinen Schädel. Die Glaswand seines Käfigs war keinen halben Meter von seinem Gesicht entfernt. Sie war nicht so tadellos sauber wie sonst; eine Patina aus Staub überzog sie, Putz, der von der Decke gerieselt war. Er konnte sein Spiegelbild sehen, ein Gesicht, halb in einem Kissen begraben.
Und dahinter sah er ein anderes Gesicht. Julias Gesicht, schön, hart, auf der anderen Seite des Glases. Er erinnerte sich daran, wie er in Princeton aufgewacht war und dieses liebreizende Gesicht vor sich gesehen hatte, die blonden, zerzausten Haare, und wie sein hilfloses Herz gepocht hatte. Letztlich war es nur eine weitere nachlässige Verführung durch ein monströses Geschöpf gewesen, das nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als ihn zu benutzen, eine von vielen solcher Verführungen, solcher Monster. Trotzdem hätte er sich damals nicht vorstellen können, dass davon nicht mehr bleiben würde als das hier, dass sie ihn derart ausnutzen würde.
»Er ist wach«, hörte er sie sagen. »Ich glaube, es
hat funktioniert. Aethelmaers Kodex hätten wir also zurückgeschickt, Josef.« Sie wandte den Blick ab; Ben sah die Beuge ihres Halses, die geschmeidigen Muskeln über dem Uniformkragen. »Der erste Schritt ist getan. Komm schon, Mann, zeig ein wenig Begeisterung. Wir haben die Geschichte verändert – noch einmal!«
Vor Bens Augen war alles verschwommen, verschleiert von Drogen und staubigem Glas. Hinter Julia sah er die Rechenmaschine, eine Wand aus funkelndem Metall und Drähten, und die gebeugte Gestalt von Josef Trojan vor einem flimmernden grauen Bildschirm. Ein weiterer Mann in einer dunkelblauen Uniform saß schweigend auf einem Stuhl. Schockiert erkannte er, dass es George Tanner war.
»Das kannst du ja den alliierten Einheiten erklären, die gerade Richborough belagern«, sagte Trojan. »Was immer wir getan haben, es hat nicht das Geringste bewirkt, ebenso wenig wie das Menologium.«
»Du weißt genau, dass es ein zweistufiger Prozess ist. Wir haben die Waffen zurückgeschickt; jetzt müssen wir noch den Motivator zurückschicken, das Testament der Eadgyth. Dann haben wir’s geschafft – Amerika ist besiegt, bevor es überhaupt entstehen kann. Es wird nur ein bisschen dauern, die Drogen aus Kamens Körper zu spülen, und er braucht auch eine Auffrischung durch die mnemonischen Bänder, bevor wir ihn wieder in Schlaf versetzen.«
»Dafür bleibt uns vielleicht nicht mehr genug Zeit.« Er klang, als stünde er am Rande der Panik. »Wir haben dieses Programm in aller Eile vorangetrieben,
haben die Forschungen, die Berechnungen abgeschlossen, so schnell es ging. Und jetzt läuft es auf das hier hinaus, die letzten Stunden, und es ist immer noch nicht erledigt …«
»Ich kann nicht glauben, dass du trinkst. In einem solchen Moment!«
»Es ist unsere letzte Flasche Führerwein. Der Führer hat sie Himmler zu dessen Geburtstag geschenkt, und Himmler mir. Trink, trink! Willst du ihn den Engländern lassen? Vielleicht möchte dein Lieblings-Liebhaber-Geiselpolizist auch einen Schluck. Oder
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