Diktator
Der Raum war voller Menschen in Zivil, darunter viele Frauen; ihre Gesichter trieben vor Gary im Dunkeln, mit großen Augen und offenen Mündern. Es stank nach Urin, Exkrementen und Erbrochenem. Der Wehrmachtsmann sagte in gutem Englisch: »Ich bin Obergefreiter Ernst Trojan. Ich bin der einzige Militärangehörige
hier. Das sind Zivilisten. Deutsche Zivilisten. Es ist nicht nötig, sie zu verletzen.«
Gary zögerte. »Kennen wir uns nicht?«
Trojan starrte ihn an. »Aus Richborough? Ein römischer Speer, ein Überfall? Ein anderes Leben …«
»Was, zum Teufel, haben diese Leute hier zu suchen?«
»Es sind Angehörige des öffentlichen Dienstes. Man hat sie von Deutschland nach Hastings gebracht, damit sie bei der Verwaltung des Protektorats helfen. Verstehen Sie? Buchhalter, Telefonistinnen, Sekretärinnen. Als die Gegeninvasion kam, hat man sie in diesem Bunker in Sicherheit gebracht. Wohin hätten sie sonst gehen sollen?«
»Vielleicht zurück nach Scheiß-Frankreich?«
Trojan lächelte tatsächlich. »Ach, die Boote sind für SS-Leute und Parteimitglieder reserviert.«
»Das überrascht mich nicht.«
Es gab ein Krachen; der ganze Bunker erbebte, und die Zivilisten schrien, als Gipsstaub von der Decke regnete. Gary hörte das Aufheulen eines Motors, das Mahlen von pulverisiertem Beton, das Kreischen von verbogenem Metall. Und dann bellte ein großes Geschütz, unverkennbar die Fünfundsiebzig-Millimeter-Kanone des Sherman.
»Euer Panzer ist in der Festung«, sagte Trojan. »Tja, das Spiel ist aus, nicht?«
Gary hörte laute englische Stimmen. »Runter damit!« – »Hände auf den Kopf!« – »Zurück an die Wand. Zurück!« Die Schüsse verstummten im ganzen Bau, als ende ein heftiger Regenschauer.
XII
George stapfte in Uniform durch die Innenstadt von Hastings und suchte Julia.
Es war später Nachmittag. Es war ein höllischer Tag gewesen. Und er war noch nicht vorbei.
Kein einziger alliierter Soldat hatte bis jetzt den Fuß in die Stadt gesetzt. Aber ringsum tobte der Kampf. Man hörte das Donnern der großen Geschütze draußen auf dem Meer, wo die deutsche Kriegsmarine mit der Royal Navy kämpfte, um den Evakuierungskorridor über den Kanal offen zu halten. In der Luft versuchten aus Frankreich herüberkommende Jäger der Luftwaffe, die alliierten Bomber abzuwehren, die den Hafen angriffen. Aus dem Landesinneren kam ebenfalls der Lärm von Luftkämpfen; dort attackierte die RAF die deutschen Personen- und Fahrzeugkolonnen, die auf dem Weg zur Küste waren. Auch Schiffe der Royal Navy draußen auf See beschossen den Hafen mit ihren schweren Geschützen, aber ihre Zielgenauigkeit war erwartungsgemäß gering. Man sah gewaltige Wasserfontänen aufspritzen, wenn ihre Geschosse nicht weit genug flogen. Und noch schlimmer, einige von ihnen fielen sogar in die Stadt.
Hastings, im Zentrum des Kreuzfeuers, erlebte seinen
schlimmsten Tag seit der Invasion. Nur wenige Zivilisten waren auf den Straßen; niemand verließ das Haus, wenn es nicht unbedingt sein musste, und die früher im Krieg eingerichteten Luftschutzbunker waren alle wieder voll. Die ARP und die Feuerwehr, der WVS, die Home Guard und Krankenwagen waren in großer Zahl bei jedem ausgebombten Haus im Einsatz.
Zugleich wimmelte es überall von Deutschen. Ganze Schwärme von Parteimitgliedern und SS-Leuten versammelten sich in der Stadt, um Plätze auf den letzten Booten zum Kontinent zu ergattern; Männer, die anderen ihre Herrschaftsform so brutal aufgezwungen hatten, liefen jetzt ängstlich vor den »Tommys« und »Amis« davon. Und in diesen letzten Stunden drehte die SS völlig durch. Leichen baumelten an den Laternenpfählen von Hastings, meist englische Zivilisten, die für irgendwelche Vergehen bestraft worden waren, aber auch einige Männer in den Uniformen der Wehrmacht und der Luftwaffe, ja sogar der SS. Die einzigen zur Verteidigung der Stadt aufgebotenen neuen Soldaten, die George heute gesehen hatte, waren die jämmerlichen Kinder der Hitlerjugend sowie Angehörige der Legion des heiligen Georg, englische Freiwillige, die unter dem Banner der SS für die Besatzungsarmee kämpften, Männer ohne Zukunft.
Für einen Polizisten war dieser endgültige Zusammenbruch der Ordnung ein wahr gewordener Albtraum. George kam sich vor, als wäre er der einzige normale Mensch in einer Stadt voller Wahnsinniger.
Am liebsten hätte er die Leichen von den Laternenpfählen abgeschnitten, aber er wusste, dass er das nicht wagen durfte,
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