Diktator
geschickt zu werden. Erleichterung,
gemischt mit einer ordentlichen Portion Scham, weil so viele gestorben waren, während er noch lebte.
Am Stadtrand stießen sie auf eine deutsche Kolonne, die offenbar in ungeschütztem Gelände von RAF-Flugzeugen erwischt worden war. Die Panzer, Geschütze, Lastwagen und Pferdekarren waren zerstört und ausgebrannt, und überall lagen Leichen, hingestreckt über Armaturenbretter oder von der Ladefläche der Lastwagen baumelnd. Auch Pferde hatten den Tod gefunden; ihre riesigen Leiber waren zerschmettert und blutbesudelt. Man sah, wo ein Fahrzeug, ein Bulldozer vielleicht, mitten durch die ganze Bescherung hindurchgefahren war, um sie wegzuräumen, und mit Maschinenöl und dem Braun trocknenden Blutes befleckte Kettenspuren hinterlassen hatte. Die Männer gingen mit abgewandtem Blick vorbei. Man konnte die Bilder ausblenden, aber nicht die Gerüche, den ewigen Gestank von Blut, Kordit, Öl und Ruß, der diese gesamte Ecke Englands zu durchdringen schien. Die alliierten Wachposten erlaubten den Deutschen, die Hände vom Kopf zu nehmen und sich Taschentücher vors Gesicht zu halten.
Nur hundert Meter nach der vernichteten Kolonne kamen sie in die Stadt.
Britische Fahnen hingen aus den Fenstern der Häuser, und Ernst fragte sich, wo sie all diese Jahre versteckt gewesen sein mochten. Leute beugten sich aus Zimmern in den oberen Stockwerken und jubelten den britischen Soldaten zu, die unten vorbeizogen,
Frauen kamen mit Tabletts mit Tee heraus, küssten die Soldaten und schüttelten ihnen die Hände. Ein Mädchen mit leuchtendem Lippenstift rief: »Jemand Amerikaner? Have a go, Joe! Irgendwelche Amerikaner hier?«
Heinz stapfte neben Ernst dahin, die Hände auf dem Kopf verschränkt. »Und das gerade mal hundert Schritte von den Toten entfernt. Wie heißt das Wort, nach dem ich suche?«
»Surreal.«
»Genau.«
Sie marschierten die Straße am Meer entlang. Der Strand, zur rechten Seite der Gefangenen, war von Bootstrümmern und Leichen übersät, die ausgestreckt auf dem Kies lagen. Ein alter Mann ging von einem Toten zum anderen und nahm ihnen Uhren, Brieftaschen oder auch nur Zigaretten ab. Ernst fragte sich, wohin die britische Polizei verschwunden war; die »Bobbys«, die er kannte, hätten so eine Respektlosigkeit nicht geduldet. Als sie weitergingen, hörte Ernst den süßen, wenn auch ein wenig holprigen Klang einer Geige. Die Melodie war einfach, aber vertraut: »Lili Marleen«. »Das hat Alfie Miller immer gespielt«, sagte er leise zu Heinz, aber den interessierte das nicht. Einige der marschierenden Deutschen fingen an, die Melodie zu summen oder sogar leise den Text mitzusingen. Nach ein paar Schritten stimmten manche ihrer britischen Bewacher mit ein.
Sie wurden zur Marineparade am Fuße des West Hill mit seiner brütenden Burg gebracht. Dort herrschte
Hochbetrieb; Leute versammelten sich auf der Suche nach einem Ort zum Feiern, und man hörte Gelächter, als würde gleich eine große Party beginnen.
Die Gefangenen mussten haltmachen und sich vorschriftsmäßig an einer Wand aufstellen, zu weit auseinander, um gemeinsam etwas aushecken zu können, Auge in Auge mit bewaffneten Wachposten. Es war schon eine Erleichterung, die Arme sinken lassen zu können.
Ein englischer Offizier rief mit lauter Stimme: »Also, Leute, ihr werdet jetzt hier schön Ruhe bewahren, während wir uns überlegen, wo wir euch heute Nacht unterbringen. Ich weiß, ihr habt keine Lust mehr zu kämpfen, ebenso wenig wie ich, also lasst uns diese Angelegenheit ohne weitere Dramen hinter uns bringen. In Ordnung?« Er rief einen deutschen Offizier herbei, einen Hauptmann, der das für ihn übersetzte.
Ernst lehnte sich erschöpft an die Wand, erleichtert, dass er nicht hatte übersetzen müssen.
Die Geige spielte immer noch. Die Musik kam vom Strand. Ernst schaute dorthin. Er sah einen Jungen im Zentrum eines Kreises englischer Soldaten spielen; um sie herum stieg der Rauch ihrer Zigaretten auf. Sie tranken, nachsichtig beobachtet von zwei Militärpolizisten. Der Junge schien die Uniform der HJ zu tragen. Dann gab es auf einmal einen Tumult, als ein Mädchen mit kahl geschorenem Schädel schreiend in den Kreis durchzubrechen versuchte. Das alles war ziemlich weit weg, und Ernst konnte nicht verstehen, was sie sagte.
Heinz, der ein paar Meter entfernt stand, rief ihm zu: »Hey, Ernst. Das ist schon das zweite Mal, dass wir heute auf die verdammten Millers stoßen.«
»Was meinst du?«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher