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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Mädchen da vorn, das Deutschenliebchen mit dem geschorenen Schädel. Ist das nicht Viv?«
    Ernst sah, dass er recht hatte. Und der Junge im Zentrum des Kreises musste Alfie sein. Als er nun genauer hinschaute, sah er, dass Alfie weinte, während er spielte; Blut tropfte von seinen Fingern.
    Ernst überlegte nicht lange. Er trat aus der Reihe und lief einfach los, über die Straße.
    Hinter sich hörte er schnelle Schritte. »Hey! Komm sofort zurück!« Ein Schuss fiel, aber er ging in die Luft. Leute wichen ihm hastig aus, eine Frau stieß einen Schrei aus. Ernst sah, wie Militärpolizisten und Soldaten von mehreren Seiten auf ihn zukamen; wären die vielen Menschen nicht gewesen, hätten sie ihn zweifelsohne niedergeschossen. Er erreichte den Kreis der Soldaten, bevor er von einem riesigen Militärpolizisten gepackt wurde. »Hier ist Schluss für dich, Fritz.«
    Er wehrte sich und rief: »Viv! Vivien!«
    Das Mädchen drehte sich verwirrt um. Er sah die Kratzer in ihrer Kopfhaut, wo sie brutal kahl geschoren worden war. Ein betrunkener Soldat hielt sie am Arm fest und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ernst hatte davon gehört; Soldaten beider Seiten betrachteten einen kahl geschorenen Schädel als Zeichen, dass ein Mädchen zu haben war. »Ernst!«,
rief sie. »Oh, Ernst! Sagen Sie denen, sie sollen aufhören, sie sollen aufhören! Sie sagen, sie bringen ihn um!«
    »Vivien!«
    »Was, zum Teufel, machen Sie denn hier, Obergefreiter?«
    Ein weiteres bekanntes Gesicht schob sich vor seines. Es war Gary Wooler aus Richborough, der ihn im Bunker gefangen genommen hatte. »Corporal«, sagte Ernst, »bitte …«
    Der MP machte Anstalten, Ernst wegzuzerren, aber der Corporal hob die Hand. »Moment noch, Angus.« Er warf einen Blick auf das Mädchen und den Jungen mit der Geige in den blutigen Fingern. »Was ist hier los?«
    »Ich muss spielen«, platzte Alfie mit seinem starken Sussex-Akzent heraus, »und wenn ich aufhöre, erschießen sie mich. Das haben sie gesagt. Ich spiele jetzt schon ein paar Stunden, und ich kann nicht mehr, meine Finger, ich kann nicht mehr …«
    »Ach, komm schon, Gary, ist doch bloß Spaß.« Ein anderer Mann löste sich aus dem Kreis der Soldaten. »Schau dir den kleinen Hosenscheißer an. Ein Mitglied der Hitlerjugend! Wir hätten’s ja nicht wirklich getan. Aber die Jungs hier sagen, das hübsche kleine Kerlchen habe draußen auf der Straße nach Folkestone auf sie geschossen.«
    Das Gesicht des Corporals verfinsterte sich. »Du Arschloch, Willis.«
    »Jedenfalls feiern wir. Stell dir vor – es hat zwar
auch schon früher Invasionen Englands gegeben, aber bisher sind die Invasoren noch kein einziges Mal wieder rausgeflogen. Boudicca konnte die Römer nicht loswerden, die Sachsen konnten die Normannen nicht rausschmeißen. Wir sind die Ersten!«
    »Die verdammte Boudicca interessiert mich einen Dreck.« Wooler watete in den Kreis, zerrte den Jungen heraus und schubste ihn seiner Schwester in die Arme. »Macht, dass ihr nach Hause kommt, und zieh diese Scheiß-Nazijacke aus, mein Junge. Und du Willis – du kommst mit mir.«
    »Wohin?«
    »Nach Richborough. Wir haben noch was zu erledigen.«
    Viv und Alfie gingen davon. Viv legte ihrem Bruder den Arm um die schmalen Schultern. Sie schaute sich noch einmal zu Ernst um. Dann sagte sie: »Komm, Alf, suchen wir Mum und Myrtle. Aber hör zu, ich muss dir von Dad erzählen. Von Dad und Jack …«
    Der MP schleifte den widerstandslosen Ernst zurück über die Straße und stieß ihn heftig gegen die Wand, an seinen Platz in der Reihe.
    »Du Arschloch«, sagte Heinz. »Dafür hätten sie dir den verdammten Kopf wegpusten können.«
    »Wenn ich nicht hier gewesen wäre, hättest du dasselbe getan.«
    »Ja, stimmt. Aber es geht ums Prinzip. Hey, Tommy! Wie wär’s mit ’ner Zigarette für ’nen alten Mann?«
    Der MP ignorierte ihn.
    Die Soldaten, die Alfie gequält hatten, bildeten wieder
ihren Kreis und ließen Zigaretten und Alkohol herumgehen. Ein paar Mädchen kamen herbei und gesellten sich zu ihnen. Ein Paar tanzte, obwohl es keine Musik gab. Die Dämmerung brach herein, aber in der Stadt wurde es heller; aus den Fenstern fiel der Lichtschein von Kerzen, Öllampen und sogar Glühbirnen, als zum ersten Mal seit Jahren Verdunkelungsvorhänge beiseitegezogen wurden.
    Und Gary Wooler kehrte zu Ernst zurück. »Wenn ich’s mir recht überlege, Obergefreiter, dann sollten Sie mit uns kommen.«

XIV
    6. Juli
    Ben erwachte zu

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