Diktator
Verteidiger schienen das Feuer nur noch mit MGs und Gewehren erwidern zu können, deren Kugeln vom Rumpf des Panzers abprallten, ohne dass dieser etwas davon bemerkte. Das Donnern der Kanone war enorm laut, und obwohl Mary sich die Hände auf die Ohren presste, spürte sie es in der Brust und in den Hohlräumen ihres Schädels.
Mary kauerte mit Gary, Willis Farjeon und dem jungen deutschen Gefangenen, dem Obergefreiten Ernst Trojan, in einem eingenommenen Graben. Weitere Soldaten – die Gruppe bestand insgesamt aus acht Mann – lagen in der Nähe. Sie warteten auf Tom Mackie. Im Graben roch es nach Blut und Kordit, der Gestank der Schlacht.
Gary berührte sie an der Schulter. »Geht’s dir auch wirklich gut, Mom?« Er musste schreien, um den Lärm der Kanone zu übertönen.
»Was glaubst du wohl?«, schrie sie zurück. Sie fühlte sich unwohl in ihrem »Sirenenanzug«, ihrem
blauen WVS-Overall, und ihr Rucksack enthielt die Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit Geoffrey Cotesfords Lebenserinnerungen – ein Packen akademischer Dokumente in einer Kriegszone.
»Ich habe den Triumphbogen, an dem ich ein Jahr meines Lebens gearbeitet habe, noch nicht mal zu sehen bekommen«, sagte Gary. »Und jetzt haben sie ihn abgerissen, um einen Flakturm zu bauen!«
»Claudius’ Monument ist es damals auch nicht besser ergangen. Als sich das Blatt gegen Rom wendete, haben sie es ebenfalls abgerissen, um die Festung an der Sachsenküste zu bauen.«
»Tja, man sollte es wohl lieber bleiben lassen, in England einzufallen«, meinte Gary.
Vielleicht stimmte das, dachte sie. Und wie seltsam es war, dass eine gewaltige Invasion ihre letzten Augenblicke heute vielleicht genau dort erleben würde, wo vor eintausendneunhundert Jahren eine andere stattgefunden hatte.
Ernst Trojan bewegte sich. Er trug seine schmutzige Wehrmachtsuniform, hatte aber zu seiner Sicherheit einen Helm des britischen Heeres bekommen, und seine Hände waren auf den Rücken gefesselt.
»Alles in Ordnung, Fritz?«, rief Willis ihm zu. »Kann ich dir irgendwas besorgen? Wie wär’s mit ’nem Bier?«
»Lass ihn in Ruhe, Willis«, sagte Gary.
Ein weiteres Krachen ertönte, und sie duckten sich alle.
Tom Mackie kam im Graben angekrochen. Er hockte
sich zu ihnen und hielt seine Navy-Offiziersmütze fest. »Tag allerseits.«
»Wurde aber auch verdammt noch mal Zeit«, sagte Willis. »Sir.«
»Wir tun alle unser Bestes, Farjeon«, erwiderte Mackie gelassen. »Also, wir sind endlich so weit«, wandte er sich an Mary. »Die Eierköpfe sind da.«
Sie riskierte einen Blick aus dem Graben und sah, dass ein Panzerfahrzeug im hinteren Bereich des Kampfgebiets Militärpersonal und teilweise schon ziemlich angejahrte Zivilisten ausspuckte. »Wer sind die?«
»Einige meiner Kollegen vom MI-14. Ein paar Leute von Bletchley Park, die sehen wollen, ob die Nazis irgendwelche Verbesserungen an ihren Colossus-Rechenmaschinen vorgenommen haben. Und ein paar amerikanische Wissenschaftler.« Er zeigte hin. »Das ist John von Neumann. Ein Eierkopf unter Eierköpfen. Er hat zur Zeit von Ben Kamen und Gödel in Princeton gearbeitet. Weiß wahrscheinlich mehr über Mathe und Physik als die beiden. Wir haben ihn uns vom Atombombenprojekt der Amerikaner ausgeliehen. Und der da ist Thomas Watson. Chef von International Business Machines. Sie wissen schon – IBM, die große Rechenmaschinenfirma in den Staaten. Moralisch ein bisschen anrüchig, wie es heißt. Hat einen Orden von Hitler bekommen.«
»Verdammte Yanks, Captain«, warf Willis Farjeon ein. »Stehlen uns hier unsere Frauen und jetzt auch noch unsere Rechenmaschinen. Tja, was soll man machen, hm, Sir?«
»Schon gut, Farjeon.«
Mary erspähte einige andere Männer in weniger bekannten Uniformen mit Zahnrädern und Schraubenschlüsseln auf den Schulterstücken. Sie standen abseits der anderen. »Und die?«
»Ah. Technische Experten der Roten Armee.« Mackie lächelte trübselig. »Alles ein bisschen heikel, was? Wir können Onkel Joe ja nicht außen vor lassen, wenn wir die Amerikaner beteiligen. Na egal, sollen sie den Colossus und so weiter haben; das spielt eigentlich keine Rolle. Tatsächlich glauben unsere Freunde, das alles hier gehöre zu einem Chemiewaffenprogramm der Nazis. Sarin und Tabun. Die sogenannten Verzweiflungswaffen . Erheblich plausibler, meinen Sie nicht? Hören Sie, wir brauchen nicht zu warten, bis der Turm fällt. Wir wollen mit dieser Gruppe vor dem Haupttrupp reingehen und in den
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