Diktator
schmerzhaft gegen ein Möbelstück. Doch dann fand sie die kleine elektrische Lampe und tastete nach dem Stromkabel. Die Lampe ging an und verbreitete einen trüben Schwachstrom-Lichtschein. Ihr Hotelzimmer. Sie war in Colchester, die erste Nacht in der Stadt. Die Fenster hatte man zu Verdunkelungszwecken übertapeziert – das war billiger als Verdunkelungsvorhänge. Kein Wunder, dass sie die Orientierung verloren hatte. Und auch kein Wunder, bei derart verschlossenen Fenstern, dass es so verdammt heiß in dem Zimmer war.
Sie sank für einen Augenblick ins Kissen zurück, weil sie nicht vollständig aufwachen wollte. Die Sirene heulte weiter, und nun antworteten ihr andere, in größerer Entfernung. Sie klangen wie einsame prähistorische Ungeheuer mit langem Hals, die einander über einen trostlosen Sumpf hinweg riefen.
Eine Faust schlug gegen die Tür, und sie zuckte zusammen. »Alle raus und in den Schutzraum!« Sie hörte schnelle Schritte, die sich auf dem Flur entfernten. Türen knallten, Stimmen murmelten.
Also stand sie auf. Sie holte eine lange, weite Hose aus ihrem Koffer, den sie noch gar nicht ausgepackt hatte, zog sie über ihr Nachthemd und nahm eine Jacke vom Haken an der Rückseite der Tür. Ihre bloßen Füße zwängte sie in flache, praktische Schuhe.
Ihre Rechercheergebnisse stopfte sie in die Aktentasche und klappte sie zu. Der Segeltuchbeutel mit der Gasmaske hing hinten an dem kleinen Stuhl vor dem Schreibtisch. Sie sah sich nach ihrer Handtasche um, die im trüben Licht dieses schrecklichen englischen Strommangelsommers verschwunden war, und entdeckte sie unter dem Bett, neben einem Nachttopf. Die Tasche enthielt ihren Ausweis, Bezugsscheinhefte und ihren amerikanischen Pass, all ihre lebenswichtigen Papiere. Ihr einziger Wertgegenstand war der Ehering, den sie an der Hand trug. Was noch, was noch? Es war nicht ihr erster Luftangriff – seit über einer Woche lag Südengland unter schwerem Beschuss –, aber die anderen hatten sie in Hastings erwischt, wo sie während Garys Rekonvaleszenz bei George Tanner und Hilda gewohnt hatte. Nun war sie jedoch allein in dieser fremden Stadt, und sie beherrschte die hiesige Routineprozedur in solch einem Fall noch nicht. Sie wusste nicht einmal, wo sich der nächste Luftschutzraum befand.
In letzter Minute griff sie sich ihre Zahnbürste vom Waschbecken und steckte sie in die Jackentasche.
Sie öffnete die Tür. Im Flur war die Beleuchtung noch trüber als in ihrem Zimmer; zwischen gähnend leeren Fassungen saßen nur ein paar spärliche Glühbirnen. Sie zögerte und versuchte, sich den Weg zur Treppe ins Gedächtnis zu rufen. Nach links, dachte sie und eilte in diese Richtung.
Die Sirenen heulten noch immer. Mary fragte sich, was ihre Freunde daheim wohl denken würden, wenn sie sie jetzt sehen könnten, wie sie mit in die Hose gestopftem Nachthemd in diesem halbdunklen Flur um ihr Leben rannte. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie wenigstens andeutungsweise zu kämmen.
Sie gelangte zur Treppe, einem verschatteten Schacht, eilte, eine Hand am Geländer, ins Erdgeschoss hinunter und landete in einem winzigen, verlassenen Empfangsbereich. Sie lief schnurstracks hindurch und auf die Straße hinaus.
Die Nacht war bewölkt, der Himmel dunkel. Um sie herum war es stockfinster; sie fühlte sich sehr unsicher. Die Straßenlaternen waren natürlich alle ausgeschaltet. Nur eine offene Tür hier und da oder ein unvollständig verdunkeltes Fenster spendeten ein wenig Licht. In der Luft lag der Geruch von Staub und Asche. Sie war nur etwa einen Block von der großen alten Normannenburg entfernt, aber nicht einmal die konnte sie sehen.
Irgendwo in der Nähe eröffnete eine große Flak mit ohrenbetäubendem Lärm das Feuer. Der Boden erbebte, und sie zuckte zusammen. Im Norden malte
ein Suchscheinwerfer einen Lichtkreis auf die niedrige Wolkendecke. Erneut krachte Geschützfeuer, und ein Funkenstrom stieg entlang der Parabolbogen empor. Im Licht des Suchscheinwerfers sah sie eine Familie vornübergebeugt durch die Dunkelheit laufen; die Eltern hielten ihre Kinder an den Händen. Wie sie so im Schatten dahinhasteten, sahen sie wie Ratten aus.
Mary schlug den Weg ein, der ihrer Ansicht nach zur Burg führte, die Tasche und den Beutel mit der Gasmaske über der Schulter, die Aktentasche in der Hand. Sie konnte so gut wie nichts sehen und tastete sich an einer Mauer entlang. Es war ein albtraumhaftes Gefühl, ins Dunkel
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