Diktator
fand einen Platz an der Wand, wo sie sich hinsetzen konnten, den Rücken am Mauerwerk. Sie holte Mary eine Tasse Tee und legte ihren Helm auf den Boden, zwischen ihre gekreuzten Beine. Überall um sie herum waren Menschen, ein warmer Mief sich unruhig bewegender Körper, der schale Geruch wollener Kleidung, leises Gemurmel. Mütter deckten ihre Kinder zu, drei oder vier pro Bett. Viele Leute lasen Zeitung oder Penguin-Taschenbücher. Ein alter Mann, der wie ein Rabbi aussah, las in einer ledergebundenen Bibel. Es war alles recht behaglich, und nur wenige schienen Angst zu haben; mittlerweile war das alles für sie Routine, vermutete Mary. Aber sie hörte das dumpfe Dröhnen von Flugzeugmotoren, das ferne Krachen von Bomben und das hämmernde Vibrieren des Flakfeuers. Die Nacht hatte nichts Sanftes.
»Ich brauchte mal eine Pause«, sagte Doris, die ebenfalls Tee trank. »War schon eine lange Nacht.«
»Ist alles sehr gut organisiert«, bemerkte Mary.
»War nicht von Anfang an so. Meine Güte, nach einer Nacht hier unten hätte man die Luft in Scheiben schneiden und raustragen können.«
»Aber wissen Sie, als Außenstehender imponiert es mir, wie die Briten sich auf die Situation eingestellt haben. Wie ihr mit allem fertig werdet.« Eine große Leistung eines Volkes, das, abgestoßen vom industrialisierten Gemetzel des Weltkriegs 14/18, diesen Konflikt nie gewollt hatte.
Doris rümpfte die Nase. »Na ja, mit ein bisschen gesundem Menschenverstand und einer Prise Courage kommt man nach meiner Erfahrung schon ziemlich weit. Und eigentlich hat es uns hier nicht so schwer getroffen. Noch nicht.«
»Nein. Nicht wie die Küstenstädte. Ich war in Hastings. Dort suchen die Leute Unterschlupf in Höhlen.«
»Wirklich? Tja, die Küste hat richtig was abgekriegt, heißt es, und auch die Flugplätze und so. Die wollen uns sturmreif schießen, bevor Hitler einmarschiert. Sagt man.«
»Ich glaube nicht, dass die Deutschen einmarschieren werden.«
»Nein. Das brauchen sie gar nicht – hab ich gehört. Mit ihren U-Booten im Atlantik können sie uns einfach aushungern, nicht?«
»Haben Sie Familie? Einen Mann?«
Doris sah sie an; offenbar hatte sie eine unangenehme Frage gestellt. »Mein Mann war bei der BEF. Er ist nicht aus Frankreich zurückgekehrt.«
»Das tut mir leid.«
»Ich hab eine Postkarte vom Roten Kreuz gekriegt. Er war in einem Kriegsgefangenenlager bei Paris. Jetzt will man sie weiter nach Osten bringen, nach Deutschland, um sie dort als Arbeitskräfte einzusetzen.« Sie lachte. »Ich schätze, selbst die Deutschen brauchen ein bisschen Zeit, um eine komplette gefangene Armee von vierhunderttausend Mann zu verlegen.«
Mary erzählte von ihrem Sohn. »Ich habe wohl Glück gehabt. Gary ist mehr oder weniger in einem Stück zurückgekommen. Er wird sich bald erholen.«
»Und will er wieder kämpfen?«
»O ja.«
»Ist alles ein schreckliches Schlamassel, was? Ich vermisse meinen Bob natürlich, und Jennifer geht’s genauso. Wir werden ihn wohl erst wieder zu sehen kriegen, wenn dieser scheußliche Krieg vorbei ist.«
»Jennifer?«
»Meine Kleine.« Sie öffnete ihren Mantel und holte ein Foto heraus, aufgenommen an einem sonnigen Tag vor dem Krieg; es zeigte Doris selbst, einen lächelnden, vorzeitig kahl gewordenen jungen Mann und ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren.
»Sie ist hübsch. Wo ist sie jetzt?«
»Ach, ich hab da eine Tante in Amerika. Kentucky heißt das, wo sie wohnt. Wir hatten vor dem Krieg ein bisschen Geld gespart, und da haben wir beschlossen, Jenny nicht irgendwohin aufs Land zu schicken, sondern zu Angehörigen. Also haben wir ihr die Überfahrt bezahlt. Momentan ist sie oben in Liverpool, aber
nächsten Monat soll sie mit der City of Benares auslaufen. In Amerika wird sie in Sicherheit sein, oder? Ich weiß leider gar nichts über Ihr Land – nichts außer dem, was man in den Filmen sieht.«
»Die Leute sind nett. Genau wie hier. Sie wird es bestimmt gut haben.«
»Nachdem sie weg war, dachte ich, ich könnte genauso gut was Nützliches tun, und bin zu den Air Raid Precautions gegangen. Aber sie fehlt mir so.« Sie verlor sich einen Moment lang in ihren Gedanken, dann zog sie bewusst ein fröhlicheres Gesicht, als wäre ihr wieder eingefallen, dass sie eine Aufgabe zu erledigen hatte. »Und was machen Sie hier in England?«
»Tatsächlich war ich schon vor dem Krieg hier. Ich bin Historikerin; ich habe mich mit Aspekten des Spätmittelalters beschäftigt. Als
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