Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
der Friedhofsgärtnerei hatte zustellen lassen. Dann bekundete sie wortreich ihre Freude darüber, endlich einmal wieder etwas von ihm zu hören. Und schließlich wollte sie wissen, wo er denn die ganze Zeit über gesteckt habe und wieso er sich so lange nicht bei ihr gemeldet hätte.
Sie habe ihrerseits mehrfach versucht, Kontakt zu ihm herzustellen, sie habe sogar zweimal in seiner Dienststelle angerufen und um Rückruf gebeten. Da ihre Bemühungen jedoch keinerlei Resonanz erzeugt hätten, habe sie angenommen, dass er wohl das Interesse an ihrer Person gänzlich verloren hätte.
Tannenberg wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Er fühlte sich mit einem Male wie erschlagen. Genau diese Reaktion Ellens hatte er sich doch so sehr erhofft. Und nun hing er abgeschlafft in den Seilen, brachte außer ein paar abgehackten Wortbrocken kaum einen Ton über die Lippen.
Seine merkwürdige Befindlichkeit blieb Ellen nicht verborgen.
„Was ist denn los mit Ihnen, Herr Hauptkommissar?“, fragte sie verwundert. „Sie klingen ja so deprimiert. Hat das etwas mit Ihrem neuen Fall zu tun?“
„Neuer Fall? Nein, nein, Frau Herdecke. Ich hatte nur ein wenig geschlafen“, log er und ergänzte: „Auf der Couch. Und wenn ich dann plötzlich geweckt werde, bin ich eine zeitlang immer völlig von der Rolle.“
„Ach deshalb! Verstehe. Mir geht’s genauso. Aber dann wäre doch ein schöner Spaziergang genau das Richtige für Sie. Was halten Sie denn von dieser spontanen Idee? Hätten Sie Zeit?“
„Ja, ... ja. Natürlich ... Gerne“, stammelte Tannenberg.
„Gut, dann treffen wir uns in einer Stunde am Vogelwoog. Und zwar an dieser kleinen Gaststätte oder was das ist, gleich unten am See, wenn man von der Merkurstraße kommt. In Ordnung?“
„Ja.“
„Ich freu mich!“
„Ich auch, Frau Herdecke, ich auch.“ Er hatte mit kurzem zeitlichen Abstand noch ›wirklich‹ nachgeschoben, aber Ellen Herdecke hatte bereits aufgelegt.
Warum denn das nun schon wieder?, fragte er sich selbst. Was soll das? Warum fallen immer diese radikalen Stimmungswechsel über mich her? Von der einen zur anderen Sekunde. Warum nur? Ich war doch total gut drauf. Und dann das! Was soll die Frau denn nur von mir denken? Die muss doch meinen, ich sei verrückt. Das ist ja auch verrückt! Da schick ich ihr einen großen Blumenstrauß, warte gespannt auf ihre Reaktion. Und dann ruft sie auch tatsächlich an, sagt, dass sie sich wie ein kleines Kind darüber gefreut hat – und ich benehme mich, wie wenn meine Mutter gerade gestorben wäre. Mann, Mann, Mann! Das gibt’s doch gar nicht!
Er schüttelte den Kopf, schloss die Lider. Die Lippen hatten sich zu einem dünnen Strich verwandelt. Er atmete schwer. Nach einer Weile öffnete er blinzelnd die Augen. Sein verklärter Blick fiel direkt vor ihm auf den Parkettboden, mitten hinein in eine kleine schaumbesetzte Wasserlache, die sich von ihm völlig unbemerkt um seine nackten Füße herum gebildet hatte. Er nahm das Badetuch von seinen Lenden, ging in die Hocke und betupfte damit die nasse Stelle.
Und ob’s das gibt! Sei doch nicht so scheinheilig. Du weißt ganz genau, woran es hängt, hörte er plötzlich eine Stimme aus den unergründlichen Tiefen seiner Seele zu ihm sprechen. Du hast nämlich mal wieder Angst vor deiner eigenen Courage, du kleiner Hosenscheißer! Weil du spürst, dass mit ihr was laufen könnte. Du elender Hasenfuß. Trau dich halt mal was!
Tannenberg war gewohnt, dass sich in solchen Situationen die andere, enorm selbstkritische Dimension seines Bewusstseins ungefragt zu Wort meldete, ihn mit schmerzhaften Vorwürfen malträtierte, mit Wonne Salz in die offenen Wunden seiner geschundenen Seele streute und ungeschminkt Dinge sagte, die er partout nicht hören wollte.
Irgendwann einmal hatte er dieses psychische Korrektiv ›innere Stimme‹ genannt, obwohl er wusste, dass dieser Begriff eigentlich aus der Schizophrenie-Forschung stammte.
Als er kurz nach Leas Tod zum ersten Mal diesen ihn mit bitterbösem Spott überschüttenden inneren Widersacher bewusst wahrgenommen hatte, war er richtiggehend schockiert gewesen und hatte sich irritiert an seinen Bruder und an Dr. Schönthaler gewandt.
Der Gerichtsmediziner klärte Tannenberg darüber auf, dass Stimmenhören zwar mit einer Schizophrenie einhergehen könne und auch nach einem Schädel-Hirn-Trauma, nach einer Zeckenenzephalitis oder bei chronischem Alkoholismus auftreten könne , dass dieses Phänomen jedoch
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