Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
Pfaffplatz hin gelegene Fensterfront.
Er schob den Vorhang beiseite. Sein müder Blick durchdrang die mit einer Unmenge kleiner Regentröpfchen besprühte Scheibe und tastete gemächlich die schwarzgrauen Straßen ab, die von sichtlich überforderten Lampen lediglich mit milchig-trübem Lichtschein versorgt wurden.
Keine Menschenseele, kein Auto, kein Leben – nichts. Alles tot. Trostlos, einfach nur trostlos, dachte er.
Er stand direkt vor einem breiten, beigefarbenen Heizkörper. Er schob seinen Körper ein wenig nach vorne. Dadurch berührten seine Oberschenkel die warme Metallfläche des Radiators.
Aus den Lüftungsschlitzen strömte behagliche Wärme an Bauch und Brust vorbei empor zu seinem Gesicht. Wie in Trance sog er in tiefen Zügen die laue, ein wenig nach Ölfarbe riechende Luft in sich ein.
Plötzlich schob sich von rechts unten eine, mit einem dunklen Kapuzenmantel bekleidete, männliche Gestalt in sein Sichtfeld und bewegte sich leicht torkelnd in Richtung der Pariser Straße.
Wie aus dem Nichts tauchte es auf.
Er hatte keine Chance, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Sein Gehirn, das immer und überall eine Überraschung für ihn bereithielt, hatte es ihm eingespielt und sofort die Abspieltaste gedrückt:
„Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben Licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein“,
murmelte er in die bleierne Stille seines geräumigen Büros hinein.
Heiner hatte ihm zu seinem 30. Geburtstag die in Leder gebundene Sonderausgabe der Gedichte Hermann Hesses geschenkt. Zuerst hatte er sich nur recht zögerlich an die Lektüre begeben, denn eigentlich war Lyrik nicht unbedingt seine Sache gewesen. Aber ›Im Nebel‹ hatte es ihm sofort angetan. Es gefiel ihm sogar so gut, dass er es auswendig lernte.
Und ich kann’s immer noch. Unglaublich!, stellte er schmunzelnd fest.
Plötzlich läutetet das Telefon. Tannenberg erschrak, zuckte unwillkürlich zusammen.
Es meldete sich der an der Eingangspforte diensttuende Beamte, der dem Leiter des K 1 mitteilte, dass ein gewisser Gerald Jung vor ihm stehe und angebe, einen dringenden Termin bei Hauptkommissar Tannenberg zu haben.
Um diese Uhrzeit?, hatte er zuerst den Fotografen und anschließend Tannenberg gefragt. Worauf er von diesem lediglich die Anweisung erhalten hatte, den Herren sofort zu ihm ins K 1 zu geleiten.
Tannenberg bot dem groß gewachsenen Pressefotografen einen Platz am Besuchertisch an. Aber Gerald Jung hatte keine Zeit für einen nächtlichen Plausch mit dem Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission, denn er musste in gut zehn Minuten in der Redaktion erscheinen.
Der stellvertretende Chefredakteur der PALZ hatte ihn nämlich vor einer guten halben Stunde angerufen und ihn dorthin beordert – Begründung: Planung einer Sonderausgabe anlässlich der Ermordung eines Redaktionsmitglieds.
Und da sich im Laufe der Jahre in der Zeitungsredaktion herumgesprochen hatte, dass Tannenberg gegenüber Journalisten außerhalb einer Pressekonferenz niemals auch nur ein Sterbenswörtchen zu einem aktuellen Fall über die Lippen kam, versuchte der Fotograf erst gar nicht, von seinem Gegenüber irgendwelche verwertbaren Informationen zu erbitten.
Aus diesen beiden Gründen war er deshalb sehr darauf bedacht, seinen Aufenthalt im K 1 so schnell wie nur irgend möglich über die Bühne zu bringen.
Zuerst überreichte er Tannenberg ein Couvert mit den von ihm gewünschten Aufnahmen. Anschließend fischte er aus seiner Jacke eine schmale Broschüre, die er nach eigenen Angaben heute Morgen von seiner ermordeten Kollegin als Hintergrundinformation für den Besuch des Frauenbeauftragten-Kongresses erhalten hatte. Tannenbergs wenige Fragen beantwortet er mit hastig vorgetragenen Worten und entschwand danach mit fliegenden Schritten.
Nachdem der gestresste PALZ -Mitarbeiter ihn verlassen hatte, ging Tannenberg zurück zu seinem Schreibtisch. Er ließ sich allerdings nicht gleich auf seinen ledernen Bürosessel nieder, sondern begab sich zu einem an der Wand angebrachten halbhohen Schränkchen und öffnete dort die linke Tür.
Aus dem untersten Regalfach zog er einige Aktenordner heraus, stellte
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