Dir darf ich nicht gehören
worden zu sein, als wäre es das Angemessenste auf der Welt, ein Haus
mit einer alleinstehenden jungen Dame zu teilen und freundschaftlich mit ihr zu
verkehren. Er goss seinem Bruder einen Drink ein.
Tresham
nahm das Glas entgegen. »Du bringst dich in die unglaublichsten Verlegenheiten«,
sagte er.
Ferdinand
spürte erneut Verärgerung aufkommen. Er war drei Jahre jünger als sein Bruder,
und Tresham war schon immer selbstherrlich gewesen, besonders seit er im Alter
von siebzehn Jahren den Titel ihres Vaters und alle damit einhergehenden
Verantwortlichkeiten geerbt hatte. Aber Ferdinand war kein junge mehr, den man
kritisieren und schelten konnte - und in seinem eigenen Heim erst recht
nicht.
»Was
hätte ich denn tun sollen?«, fragte er. »Sie hinauswerfen? Sie ist überzeugt
davon, dass Pinewood ihr gehört, Tresham. Bamber - das heißt Bambers
Vater hatte es ihr versprochen.«
»Schläfst
du mit ihr?«, fragte sein Bruder.
»Ob ich
... Du liebe Güte!« Ferdinand ballte die Hände zu Fäusten. »Natürlich schlafe
ich nicht mit ihr. Ich bin ein Gentleman.«
»Genau
das meine ich.« Tresham nahm erneut sein Monokel zur Hand. Würde er es ans Auge
heben, dachte Ferdinand, würde er es bereuen.
»Es war
natürlich eine vorschnelle Forderung von ihr, in meiner Gegenwart hier zu
bleiben«, sagte Ferdinand. »Aber daran kann man auch das Vertrauen ermessen,
das sie in mich als Gentleman setzt. Sie ist so unschuldig, Tresham. Das würde
ich niemals beflecken.« Er dachte schuldbewusst an die Küsse, die er mit ihr
geteilt hatte.
Sein
Bruder legte das Monokel auf ein Bücherregal und seufzte. »Dann kennst du sie
wirklich nicht«, sagte er. »Du hast sie nicht erkannt. Das habe ich mir
gedacht.«
Tresham
kannte sie? Ferdinand starrte ihn wie versteinert an, da die Vorahnung
kommenden Unheils ihn lähmte.
»Sie
kam mir von Anfang an bekannt vor«, sagte er. »Aber ich weiß einfach nicht
woher.«
»Wenn
sie sich vielleicht mit ihrem richtigen Namen vorgestellt hätte, lieber
Ferdinand, hätte dich deine Erinnerung nicht so genarrt. In gewissen Londoner
Kreisen ist sie besser als Lilian Talbot bekannt.«
Ferdinand
blieb noch einen Moment länger am selben Fleck stehen. Dann wandte er sich jäh
um und schritt zum Fenster. Dort stand er mit dem Rücken zum Raum, während ihm
die Erinnerung kam.
Er war
vor mehreren Jahren eines Abends in London im Theater gewesen und saß mit
einigen Freunden im Parkett. Das Stück hatte bereits begonnen, aber dennoch
erklang plötzlich merkliche Unruhe aus einer Loge sowie ein Murmeln aus dem
Parkett, hauptsächlich von den männlichen Theaterbesuchern. Der Begleiter, der
ihm am nächsten saß, hatte ihm den Ellenbogen in die Rippen gestoßen und mit
dem Daumen auf die Gesellschaft gedeutet, die soeben in der Loge eintraf. Lord
Gnass, ein ältlicher, aber noch immer stadtbekannter Lebemann, nahm seiner
Begleiterin gerade den rostbraunen Satinumhang ab und offenbarte damit das
darunter befindliche, schimmernde Goldgewand - und einen gewagten Teil
des üppigen Fleisches der Frau in dem Kleid.
»Wer
ist sie?«, hatte Ferdinand gefragt und sein Monokel angehoben, wie es auch
viele andere Gentlemen in dem Moment taten.
»Lilian
Talbot«, hatte sein Freund erklärt.
Eine
ausführlichere Erklärung war nicht notwendig. Lilian Talbot genoss ungeheuren
Ruhm, obwohl sie sich selten in der Öffentlichkeit zeigte. Es hieß, sie sei
schöner und begehrenswerter als Venus und Aphrodite zusammen. Und beinahe so
unerreichbar wie der Mond.
Ferdinand
hatte sich selbst davon überzeugen können, dass die Berichte über sie nicht
übertrieben waren. Einmal abgesehen von ihrem herrlichen, wohlgeformten Körper,
besaß sie ein wunderschönes, klassisches Gesicht und üppig dunkelrotes Haar,
das in komplizierten, aber eleganten Locken hoch auf ihrem Kopf aufgetürmt war
und ihren langen, schwanenähnlichen Hals hinabreichte. Sie setzte sich hin,
legte einen bloßen Arm auf den samtbezogenen Rand der Loge und richtete ihren
Blick auf das Geschehen auf der Bühne, als sei sie sich der Tatsache nicht
bewusst, dass die Aufmerksamkeit fast des ganzen Publikums ihr galt.
Lilian
Talbot war Londons gefeiertste, gefragteste und kostspieligste Kurtisane. Und
ein Teil ihres Zaubers bestand darin, dass nicht einmal der reichste,
einflussreichste Lord von höchstem Rang sie dazu überreden konnte, seine
Mätresse zu werden. Eine Nacht war alles, was sie einem Mann an Gunst gewährte.
Einige sagten, es könne
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