Dir darf ich nicht gehören
wollte seinen Widerstand brechen, indem sie die Rolle der
Viola Thornhill spielte. Aber sie war Viola Thornhill.
Mr.
Claypole hatte tatsächlich beschlossen, seine Mutter früh nach Hause zu
bringen, aber er hatte Viola auf dem Weg nach Hause begleiten wollen. Sie hatte
das Angebot mit einer Lüge abgelehnt. Sie hatte ihm gesagt, ihre Rückkehr nach
Pinewood in Lord Ferdinand Dudleys Kutsche sei bereits vereinbart.
Sie
hatte mit Lord Ferdinand tanzen wollen. Sie hatte ihn an den Abend des Festes
erinnern wollen. Aber die Rolle hatte sich vollkommen mit der Realität
vermischt. Sie hatte sich ungeheuer vergnügt und sich gleichzeitig hoffnungslos
elend gefühlt.
Nun saß
sie schweigend neben ihm, bis die Kutschräder über die Brücke gerumpelt waren.
»Fühlen
Sie sich jemals einsam?«, fragte sie ihn leise.
»Einsam?«
Die Frage überraschte ihn anscheinend. »Nein, ich glaube nicht. Allein,
manchmal, aber das ist nicht dasselbe wie Einsamkeit. Alleinsein kann in der
Tat erfreulich sein.«
»Wieso?«,
fragte sie.
»Man
kann lesen«, sagte er.
Sie
hatte überrascht gemerkt, dass er gerne las. Das schien irgendwie nicht zu ihm
zu passen, was aber andererseits auch für die Tatsache galt, dass er in Oxford
in Latein und Griechisch als Primus abgeschnitten hatte.
»Was
ist, wenn keine Bücher da sind?«, fragte sie.
»Dann
denkt man nach«, sagte er. »Tatsächlich habe ich das seit vielen Jahren kaum
noch getan. Ich war auch nicht mehr oft allein, wie es damals gewöhnlich der
Fall war, als ich noch in Acton lebte. Tresham erging es ebenso. Es war
manchmal wie eine stillschweigende Verschwörung - er lief zu seinem
Lieblingshügel und ich zu meinem. Es geschah heimlich. Männliche Dudleys
durften nur Rangen sein, keine Denker, die über die Mysterien des Lebens und
des Universums nachgrübelten.«
»Haben
Sie das getan?«
»Ja,
allerdings.« Er lachte leise in sich hinein. »Ich las in der Regel viel, wenn
auch nicht öffentlich - nicht wenn mein Vater zu Hause war. Er
missbilligte belesene Söhne. Aber je mehr ich las, desto deutlicher erkannte
ich, wie wenig ich wusste. Ich blickte ins Universum und empfand die ganze
Enttäuschung über meine Unzulänglichkeit - besonders die Unzulänglichkeit
meines Gehirns. Und dann betrachtete ich einen Grashalm und sagte mir, dass
ich, wenn ich nur dieses eine verstehen könnte, vielleicht auch in der Lage
wäre, die größeren Mysterien zu durchdringen.«
»Warum
haben Sie das viele Jahre lang nicht mehr getan?«, erkundigte sie sich.
»Ich weiß
es nicht.« Aber er dachte offenbar noch gründlicher über ihre Frage nach, bevor
er weitersprach. »Ich war vielleicht zu beschäftigt damit, beschäftigt zu sein.
Oder vielleicht habe ich an der Universität erkannt, dass ich niemals alles
wissen kann, und gab dann den Versuch auf, überhaupt etwas zu wissen.
Vielleicht war ich am falschen Ort. London ist dem Denken -oder der
Weisheit - wenig förderlich.«
Im
Inneren der Kutsche wurde es ein wenig heller, als sie den Wald verließen. Die
Unterhaltung hatte nicht die von ihr erwartete Richtung genommen. Sie erkannte
immer mehr, dass Lord Ferdinand Dudley überhaupt nicht der Mann war, den sie in
ihm gesehen hatte, als er auf Pinewood eintraf. Sie wünschte, sie würde ihn
nicht mögen, denn das machte die Dinge sehr schwer für sie.
»Was
ist mit Ihnen?«, fragte er. »Sind Sie jemals einsam?«
»Nein,
natürlich nicht«, sagte sie. Warum gaben die Menschen so ungern zu, einsam zu
sein?, fragte sie sich. Es war fast so, als wäre es etwas Schmachvolles.
»Das
war eine eilige Antwort«, sagte er. »Zu eilig.«
»Einsamkeit
kann Balsam für die Seele sein«, sagte sie, »besonders wenn man einige der
Alternativen bedenkt. Es gibt weitaus schlimmere Heimsuchungen als die
Einsamkeit.«
»Tatsächlich?«
Sie konnte in dem schwachen Licht erkennen, dass er sie ansah.
»Das
Schlimmste an der Einsamkeit ist, dass man sich selbst überlassen bleibt. Das
kann aber auch das Beste daran sein, je nach Charakter. Wenn man stark ist,
kann Selbsterkenntnis das beste Wissen sein, das man je erlangen kann.«
»Sind
Sie stark?« Seine Stimme klang sanft.
Das
hatte sie geglaubt. Das hatte sie wirklich geglaubt.
»Ja«,
sagte sie.
»Was
haben Sie über sich erfahren?«
»Dass
ich überleben kann.«
Die
Kutsche kam durch die bequeme Federung schaukelnd zum Halt und die Tür wurde
fast im selben Augenblick geöffnet. Lord Ferdinands Stallbursche klappte den
Tritt
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