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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Stunden musste er in den Luftschutzkeller – und merkte, nicht ohne Verdruss, dass die Unterbrechungen ihm nicht gänzlich ungelegen kamen. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Was konnte er auf derart unirdische, düstere Musik folgen lassen, wie um Himmels willen einen vierten Satz komponieren, der die hungernden Leningrader beflügeln und zugleich die zeternden Parteifunktionäre zufriedenstellen würde?
    »Was zum Teufel erwarten sie alle von mir?« Er stach den Bleistift in die Tischplatte. »Was wollen sie – und, noch wichtiger, was will ich selbst?« Das war, wie ihm sehr wohl bewusst war, das ganze Problem. Er hatte den fatalen Fehler begangen, ein Publikum teilhaben zu lassen, bevor sein Werk vollendet war. Hatte darüber nachzudenken begonnen, wie andere Leute es hören würden, und sehnte sich nun nach weiterem Applaus – jenem begeisterten Applaus, der ihm an seinem Geburtstag zuteilgeworden war, als seine Freunde den grandiosen Marsch und das lyrische Scherzo gepriesen hatten. »Die Sätze besingen das Leningrad von heute und das Petrograd der Vergangenheit!« Israel hatte Tränen in den Augen gehabt. Und Schostakowitsch hatte »Ja« gemurmelt, obwohl man unmöglich wissen konnte, ob an den Worten seines Assistenten etwas Wahres dran war.
    »Sie machen allesamt einen Großkotz aus mir«, murmelte er – doch der Vorwurf richtete sich eigentlich gegen ihn selbst. Nun, da er abermals Ermutigung brauchte, hörte er nichts als Stille.
    Je länger er dasaß und auf sein Werk blickte, umso unerträglicher fand er es. Ihm fiel nur ein einziger Mensch ein, der ihm helfen konnte. »Ich tu’s«, sagte er plötzlich. »Ich rufe ihn an.« Er sprang auf und ging zur Tür.
    Nina saß am Tisch. Sie las weder eine ihrer wissenschaftlichen Publikationen noch nähte sie oder zählte Lebensmittelmarken. Sie saß einfach nur da und starrte auf die Tischplatte, sodass es aussah, als wäre sie selbst aus Holz geschnitzt.
    Er setzte sich ans andere Ende des Tisches und wartete, an seinem Daumennagel zupfend, respektvoll ab. Schließlich ergriff er, so heiter er konnte, das Wort. »Woran denkst du, hier so ganz allein am Tisch?«
    »Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe Angst.« Als sie aufblickte, war ihre Miene so trostlos, dass ihm ganz bang ums Herz wurde.
    »Aber ich passe doch auf dich auf. Das weißt du. Ich passe auf euch alle auf.«
    »Die Kinder sind so dünn geworden. Und alle sagen, die Rationen würden noch einmal gekürzt. Bald ist es Winter – wie sollen wir dann heizen?«
    »Nina, es war meine Entscheidung zu bleiben. Also ist es auch meine Aufgabe, unsere Probleme zu lösen.«
    Sie lächelte halbherzig. »Du verstehst mich nicht. Es sind nicht mehr unsere Probleme, sondern die Problemeder ganzen Stadt. Wir haben bisher so viel Glück gehabt. Hatten es besser als andere, mit der Datscha, dem Auto, den zusätzlichen Lebensmitteln. Siehst du nicht, dass selbst unsere Stellung uns jetzt nicht mehr retten kann? Leningrad gehen die Nahrungsmittel und das Öl aus. Die ersten sterben schon auf der Straße. Ruhm zählt überhaupt nichts mehr.«
    Sein Gesicht fing an zu glühen. »Ich rufe morgen in der Parteizentrale an und sehe, was getan werden kann. Mir ist klar, dass ich mich bislang völlig auf die Sinfonie konzentriert habe, aber natürlich seid ihr wichtiger, du und die Kinder. Bitte mach dir keine Sorgen mehr!«
    Nina sagte nichts, sondern legte nur mit einer Geste der Hoffnungslosigkeit die Hände auf den Tisch. Die einzigen Geräusche waren das ferne Geknatter von Flugabwehrraketen und das schwache Zischen der Kerzen.
    Nach einer Weile räusperte sich Schostakowitsch. »Nur eins noch. Ich muss mit dem Dirigenten sprechen. Weißt du, ob er eine funktionierende Telefonverbindung hat?«
    »Wer, Mrawinski?« Nina sah ihn verwirrt an. »Oder meinst du Samuil Samossud?«
    »Weder noch. Ich meine ... ach, du weißt schon –« Er klopfte mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Diesen Langen, Dünnen mit dem Rundfunkorchester, zurückhaltender Mann, große Brille, redet nicht viel.«
    »Karl Eliasberg? Wofür brauchst du denn ausgerechnet den?«
    Schostakowitsch kratzte Wachs von der Kerze und hielt es wieder in die Flamme, sodass sie aufflackerte und Ninas Schattenprofil an der Wand hochsprang. »Da Sollertinski nicht mehr da ist, gibt es niemanden, dem ich eine Beurteilung meines Werks zutraue. Das Adagio zum Beispiel – ist es zu düster? Und die Art, wie die Sinfonie sich insgesamt

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