Dirigent
gibt es eine Chance, meine Mutter oder Schwester mitzunehmen?«
Als er aufgelegt hatte, wandte er sich zu Nina um. Sie sahen sich lange und schweigend an mit einem Blick, der besagte, dass sie endlich ihren Willen bekommen hatte und er ihr für das Opfer, das sie gebracht hatte, ungeheuer dankbar war, aber dennoch fand, es habe sich gelohnt.
Schließlich räusperte er sich und sagte: »Am besten packst du jetzt gleich die Sachen der Kinder. Wir fliegen morgen früh – nach Moskau.«
TEIL IV
Winter 1941 – Sommer 1942
Kriechtempo
Wenn Elias zurückblickte, erschien ihm der Winter wie ein langer Tunnel. Tiefe Dunkelheit, von der es nirgends Erholung gab. Bittere, bis ins Mark dringende Kälte. Aber am schlimmsten von allem war der Hunger, denn er degradierte die Menschen zu Tieren, die auf der Straße um Lebensmittel kämpften, Müllhaufen nach Abfällen durchwühlten, starben, wo sie hinfielen.
Er merkte, wie er allmählich abrutschte. Die zivilisierte Fassade, die er über zwanzig Jahre so gewissenhaft errichtet hatte, begann zu bröckeln, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Der Prozess hatte an jenem Tag im Dezember eingesetzt, als er nach dem Konzert, das sich im Nachhinein als Abschlusskonzert entpuppte, das offizielle Orchesterbuch zum letzten Mal zugeklappt hatte. Selbst das Schreiben kostete ihn jetzt Mühe. Mit einer Hand, die so kalt war, dass er nicht spürte, was er tat, hob er den Stift hoch, der ihm furchtbar schwer vorkam und seine Hand auf das Blatt Papier herunterzog. Ungelenk, mit kindlicher Schrift, kritzelte er ein paar Zeilen hin. »Proben seit heute gestrichen. Nebolsin tot. Malko tot. Petrow zu krank, um aufzustehen. Orchester unfähig zu arbeiten.«
Und mit dem Zuklappen des Buches war alles verschwommen. Solange er noch vor dem Orchester stand, hatte es den Anschein gehabt, als könnte er Hunger und Angst abwehren. Seine Musiker bei der Stange zu halten, obwohl ihnen vor Unterernährung und Krankheit dieKräfte schwanden und einer nach dem anderen zusammenbrach, war ihm Motivation genug. Doch irgendwann, während sie die 1812 spielten, hatte er begriffen, wie schlimm es wirklich um sie stand. Die Gesichter vor ihm waren totenblass und mit Beulen übersät, viele hatten einen Stich ins Grünliche. Wer ein paar Takte Pause hatte, legte den Kopf auf die Knie oder sein Instrument aus der Hand, als wäre es aus Blei. Jedes Mal, wenn Elias die Arme hob, um einer Gruppe den Einsatz zu geben, fürchtete er, keine Reaktion zu bekommen.
Nachdem das Konzert vorbei war, sagte niemand ein Wort. Die Musiker sahen einander kaum an, während sie mit vor Erschöpfung gebeugten Köpfen ihre Sachen zusammenpackten. Die Tücher, in die sie normalerweise ihre Instrumente einhüllten, benutzten sie jetzt dazu, die mit Kälteblasen bedeckten Hände und Füße zu umwickeln. Schweigend gingen sie fort: ohne sich zu verabschieden, ohne von der Zukunft zu sprechen. Nur Nikolai hob kurz die Hand und lächelte ihn matt, aber aufmunternd an. Für Gefühle blieb keine Kraft.
Elias ging ganz langsam den Flur entlang und hielt mehrmals inne, um sich an die Wand zu lehnen. Seine Schultern brannten, seine Zähne klapperten von einer tief sitzenden Kälte. Das war’s, dachte er. Nach dem, was die scharfsichtigen Sachverständigen gerade miterlebt hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis die offizielle Anweisung kam, die Proben aufzugeben. Doch er und sein Orchester waren bereits erledigt. Tschaikowskis Siegesouvertüre war von einem Orchester besiegter Männer gespielt worden.
Auf dem Weg nach Hause über die von Frost und Feuer geschwärzten Straßen spürte er, wie die wenige ihm verbliebene Kraft aus ihm wich. Als er bei seinem Wohnblock ankam, hatte er alles verloren, wofür er je gekämpft hatte: Stellung, Status, Respekt. Er war wieder ganz am Anfang; vor Scham und Kummer trübte sich sein Blick. Er saß eineWeile im eiskalten Treppenhaus, bevor er es schaffte, zu seiner Wohnung hinaufzugehen.
»Hast du das Brot?« Die Stimme seiner Mutter flüsterte ihm aus ferner Vergangenheit zu, ein Echo aus dem vorrevolutionären Sankt Petersburg, als er Besorgungen in einer Welt machte, von der er nicht das Geringste verstand.
»Es gibt heute kein Brot, Mutter«, antwortete er wie ein braver Junge.
In den langen Winterwochen, die folgten, kroch er halb blind vor Trauer und Wut durch die Tage. Die gefrorene Stadt zersplitterte unter den deutschen Granaten, und an den Rändern des Newski-Prospekts häuften
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